Frau Paulus, Sie waren nach dem Abitur in Brasilien. Was hat Sie beim Umgang Brasiliens mit tauben Menschen am meisten überrascht?
Liona Paulus: Mich hat es damals sehr überrascht, wie weit ihre Gebärdensprache sich entwickelt hat. So um die Jahrtausendwende herum fing ich aus privaten Gründen an, mich über Brasilien und seine Deaf Community zu informieren. Ich fand damals im Web erstaunlich wenig Informationen darüber, sodass ich einst glaubte, dass Brasilien offensichtlich "unterentwickelt" sei. Was für eine kolonialistische und naive Behauptung meinerseits! Aber das erhöhte meine Neugier, in dieses Land zu reisen und dort zu leben. Als ich dann im August 2004 dort ankam, war ich völlig überrascht, wie reich und vital ihre Gebärdensprache – die Libras – war und wie fortschrittlich sie im Bildungssystem waren. Ein Beispiel: In den brasilianischen Gehörlosenschulen gab es damals schon sehr viele Lehrer*innen, die die Libras gut beherrschten und sie ganz selbstverständlich im Unterricht verwendeten.
In Deutschland, dem so reichen und fortschrittlichen Land, war das völlig anders: Ich habe in meiner gesamten Schullaufbahn in Schulen für Hörgeschädigte nie Unterricht in Deutscher Gebärdensprache (DGS) gehabt, alles war lautsprachlich und sehr technisch (mit hochempfindlichen und sehr teuren Hörhilfen und Höranlagen im Klassenzimmer) ausgerichtet. Gebärdensprache wurde nur informell in den Pausen und außerhalb der Schule verwendet, so dass ich sie nur in diesem Kontext erworben habe. Das war und ist in Brasilien anders. Das hat mich so begeistert.
Woran liegt es, dass Brasilien Deutschland in dieser Hinsicht voraus ist?
Paulus: Ich denke, das ist einfach aus politisch-pekuniärer Not entstanden. Brasilien ist ein Global-South-Land mit instabiler Politik und Wirtschaftslage und einem Gesundheitssystem, das nur die Basisversorgung anbietet. Demzufolge gibt es einfach kein Geld für hochtechnische Ausstattungen in den brasilianischen Gehörlosenschulen und nur wenige finanzielle Ressourcen für Hörgeräte und Cochlea-Implantate (CI) für taube Kinder und Erwachsene. Daher ist der Einsatz von Gebärdensprache – das muss ich ganz lapidar sagen – der etwas "billigere" und pragmatischere Lösungsansatz, welcher sich nun zum großen Vorteil der tauben Brasilianer*innen auszahlt. Offensichtlich tut dies der brasilianischen Deaf Community gut, denn die Politik hat diese Gruppe als sprachliche Minderheit 2002 in einem Gesetz anerkannt und baut seitdem sehr viel aus. Die brasilianische Deaf Community ist derzeit äußerst lebendig, sehr gut vernetzt und ihre Gebärdensprache – die Libras – ist überall anzutreffen, im TV, auf Bildschirmen als Avatare an Flughäfen, in Tourismuszentren, bei politischen Kundgebungen und Debatten und vielen mehr. Und nahezu jede staatliche und private Hochschule/Universität bietet Libras-Kurse an.
In Deutschland versucht man mit Geldern aus der Krankenkasse und politisch-medizinischem Rückenwind, taube Kinder und Erwachsene mit Hörgeräten oder CIs und Lautspracherziehung (und vorzugsweise ohne Gebärdensprache) zu korrigieren. Das hat auch Auswirkungen auf die deutsche Deaf Community: Die Schülerzahlen in den Gehörlosenschulen und Mitgliederzahlen in den Gehörlosenvereinen gehen stets zurück und das einst starke Netz wird löchrig. Die deutsche Deaf Community und ihre Gebärdensprache wurde ebenso 2002 anerkannt, jedoch nicht als eine Sprachminderheit, sondern als eine Behindertengruppe – mal so nebenbei erwähnt. Dank der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) wird die deutsche Politik jedoch gezwungen, mehr für die tauben Bürger zu tun, also ihnen mittels Deutscher Gebärdensprache (DGS) verschiedene Bereiche zugänglich zu machen (politische Kampagnen, Theaterevents mit Gebärdensprachdolmetschern, Recht auf DGS in der Ausbildung und am Arbeitsplatz unter anderem). Auf diese Weise steigt das Bewusstsein in der deutschen Deaf Community und das Interesse der hörenden Bevölkerung an der DGS und ihrer Kultur wieder, wenn auch nur langsam.