In einer Studie des Instituts für Neuromodulation und Neurotechnologie konnte das Team um Prof. Alireza Gharabaghi zeigen, wo und wie andere Hirnareale mit den gelähmten Muskeln in Verbindung treten, um verlorengegangene Bewegungen wieder zu ermöglichen. Die Studienergebnisse wurden aktuell im Fachjournal Journal of Neuroscience veröffentlicht.
Die Diagnose Schlaganfall trifft jährlich etwa 200.000 Menschen in Deutschland und verursacht bei Erwachsenen mehr motorische Einschränkungen als jede andere Erkrankung. Knapp 40 Prozent der von einem Schlaganfall betroffenen Menschen weisen eine chronische Bewegungseinschränkung auf und sind oft auf Unterstützung im Alltag angewiesen.
Eine besondere Alltagseinschränkung tritt auf, wenn eine Hand gelähmt ist: Besteht bei den Patient*innen beispielsweise eine Lähmung der linken Hand, ist das für die motorische Steuerung zuständige Hirnareal in der rechten Hirnhälfte vom Schlaganfall und seinen Folgen betroffen. Denn: Die Impulse zu Bewegungen der linken Körperhälfte werden normalerweise von einem umschriebenen Areal in der rechten Hirnhälfte gesteuert und umgekehrt.
Um für die Betroffenen effektivere Therapien zur Neurorehabilitation auszuarbeiten, die die Beweglichkeit der gelähmten Hand verbessern, untersucht das Tübinger Institut für Neuromodulation und Neurotechnologie in einer vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Studie den Einsatz intelligenter Neuroprothesen: Dabei werden Hirnimpulse, die bei der versuchten oder vorgestellten Bewegung entstehen, in kürzester Zeit an technologische Hilfsmittel wie Roboterorthesen übertragen, die ein Öffnen der gelähmten Hand ermöglichen. Auf diese Weise spüren die Proband*innen trotz ihrer Lähmung, wie sich ihre Finger tatsächlich bewegen, und nehmen dies nicht nur visuell wahr. Durch diese haptischen Eindrücke entsteht eine Feedbackschleife zwischen Gehirn und gelähmtem Muskel.
Bereits in einer kurz zuvor publizierten Studie konnten die Forschenden sowie Kliniker*innen aus Tübingen nachweisen, dass ausgedehnte Regionen in beiden Hirnhälften nach einem schweren Schlaganfall in Verbindung mit der gelähmten Hand stehen – diese Hirnareale sind umso größer, je schwerer die Patient*innen betroffen sind. Offenbar versucht das Gehirn nach einem Schlaganfall bereits von sich aus, alle geeigneten neuronalen Ressourcen zu aktivieren, um die Lähmung zu überwinden. In ihrer aktuellen Studie konnten Prof. Gharabaghi und sein Team zeigen, dass diese neuroplastische Reorganisation durch das Training mit einer intelligenten Neuroprothese unterstützt werden kann – also wo und wie neue Verknüpfungen zwischen dem Gehirn und dem gelähmten Muskel verstärkt werden. Dabei synchronisieren sich die Gehirnneuronen dieser zusätzlichen Hirnareale mit den Rückenmarksneuronen, die für die Handöffnung zuständig sind. Je stärker diese Synchronisation im Frequenzband um 20 Hz stattfindet, desto bessere klinische Erfolge konnten anschließend beobachtet werden.
"Um solche innovativen Therapieansätze zu ermöglichen, ist nicht nur eine enge Verzahnung unterschiedlicher Disziplinen erforderlich, wir müssen auch im direkten Austausch mit den Betroffenen sein, damit etwas entsteht, was Ihnen wirklich hilft", erläutert Prof. Gharabaghi. Hierzu haben das Universitätsklinikum und die Universität Tübingen im Jahr 2020 das Institut für Neuromodulation und Neurotechnologie eingerichtet, um Expert*innen aus der Medizin, den Neurowissenschaften, der Medizintechnik und den Computerwissenschaften unter einem Dach zusammenzuführen. So können sie gemeinsam und integriert in die Krankenversorgung an intelligenten Technologien für bessere Therapien arbeiten. "Wir stehen noch am Anfang, verstehen nun aber besser, in welche Richtung wir schauen müssen, um das Licht am Ende des Tunnels zu sehen", resümiert Prof. Gharabaghi.
REHACARE.de; Quelle: Universitätsklinikum Tübingen