Inwiefern beeinflusst die Corona-Krise auch Ihre Arbeit bei rehaKIND?
Hennemann: Natürlich sind wir per Telefon und Mail im Austausch mit unseren Mitgliedern, den Eltern und Unterstützern, aber Präsenzschulungen im ersten Halbjahr und Sommer sowie Messen und Veranstaltungen sehen wir bis im nächsten Jahr als sehr schwierig an. Unsere Zielgruppe der Betroffenen ist – solange es keine Impfung gibt – sehr gefährdet und die Mediziner und Therapeuten müssen ihre Arbeitssituation nach der coronabedingten Fokussierung auch erst wieder auf Kinder- und Jugendliche einrichten. Das alles wird dauern. Das persönliche Miteinander und der kreative Austausch fehlen uns schon jetzt. Auch unseren großen rehaKIND-Kongress haben wir um ein Jahr in den Februar 2022 verschoben. Das macht wirklich traurig, aber wir bauen an digitalen Formaten des Sich-Begegnens.
Inwiefern können Sie aktuell den Trend zu mehr digitalen Rehabilitationsangeboten beobachten? Sehen Sie hier gegebenenfalls auch Potenzial für die Zeit „nach Corona“?
Hennemann: Ich glaube durch Corona hat ganz Deutschland die digitalen Hausaufgaben nachgeholt. Neben Sprechstunden, die außerplanmäßig und kurzfristig digital stattfinden können, sind sicherlich auch Übungen, Kurse, die Dokumentation von Therapieerfolgen und deren Nachverfolgbarkeit mit digitaler Unterstützung möglich. Da kommt bestimmt noch mehr – obwohl: Das persönliche Miteinander ist extrem wichtig, um die jungen Patient*innen in ihrem ganzheitlichen Zustand zu erfassen. Die Digitalisierung dieser Angebote für unsere junge Zielgruppe sollte ja nicht zu zusätzlicher Isolation und Vereinsamung führen.
Was wünschen Sie sich perspektivisch für die Kinderreha an sich und für die Branche?
Hennemann: Zunächst einmal würde ich mir grundsätzlich mehr Aufmerksamkeit für die Kinderreha wünschen. Eltern haben sich bewusst für diese Kinder entschieden und müssen in ihrem Alltag unterstützt werden.
Präventive Versorgungen zur Vermeidung von schlechteren Zuständen, und vor allem Hilfsmittel, die Teilhabe unterstützen, sollten nicht mit bürokratischen Kämpfen mit den Kostenträgern verbunden sein, sondern selbstverständlich sein. Kinder und Jugendliche mit Behinderung wünschen sich ein möglichst selbstbestimmtes Leben und brauchen Expert*innen, die Zutrauen in ihre Entwicklungsmöglichkeiten haben. Beschränkungen durch standardisierte Hilfsmittel oder durch mangelnde Individualität bei der Versorgung dürfen nicht aufgrund wirtschaftlicher Einsparungen in Kauf genommen werden. Wir brauchen alle Kinder in unserer Gesellschaft, nur durch Vielfalt wird die Gesellschaft stark.
Die ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) ist eine Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die deutschsprachige Übersetzung (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) zeigt, dass wir nicht auf die Defizite, sondern auf die Ressourcen und Fähigkeiten jedes einzelnen Menschen schauen müssen. Unsere Umwelt darf nicht zusätzlich behindern, sondern muss für Behinderungsausgleich und Inklusion sorgen. Jeder von uns – egal ob behindert oder nicht – möchte so ganzheitlich wahrgenommen werden, wie er ist. Das ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis und der Anspruch an eine funktionierende Gesellschaft von stärkeren und schwächeren Menschen.
Wie schrieb Heinrich Mann schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts: "Demokratie ist im Grunde die Anerkennung, dass wir, sozial genommen, alle füreinander verantwortlich sind." Und dies zeigt sich vor allem in Umgang mit Randgruppen, Minderheiten, kranken und alten Menschen – und wie jetzt – in Krisenzeiten.