Ulrike Jocham ist Inhaberin der Unternehmensberatung inklusiv wohnen/inklusiv leben aus Stuttgart. Sie hat die Informationskampagne Schwellenfreiheit und Benutzerfreundlichkeit in der Architektur gestartet, die über interdisziplinäre Aufgabenstellungen und bereits vorhandene Lösungen informiert. REHACARE.de sprach mit ihr über negative und positive Umsetzungsmodelle des barrierefreien Bauens.
Frau Jocham, Sie sind Heilerziehungspflegerin und Dipl.-Ing. in Architektur. Eine recht ungewöhnliche Kombination. Inwiefern können Sie diese zielführend in Ihre Arbeit einbringen?
Beim sogenannten "barrierefreien" Bauen sind sehr viele Professionen gefragt, wie zum Beispiel Pflege, Pädagogik, Medizin, Soziale Arbeit, Design, Produktentwicklung, Architektur, Städtebau, Handwerk, Baugesetzgebung, Normen- und Richtlinienentwicklung, Bausachverständigenwesen, Baurecht, Sozialrecht und Forschung, beziehungsweise Adressatenforschung sowie Expertentum in eigener Sache. Nachhaltige Entwicklungen und Lösungen für das sogenannte "barrierefreie" Bauen müssen meiner Meinung nach dringend transdisziplinär angelegt sein. Dies ist bis jetzt noch viel zu selten der Fall. Meine beiden Grundqualifikationen mit meinen disziplinübergreifenden Weiterbildungen und beruflichen Erfahrungen ermöglichen mir unter anderem zwischen den vielen, sich häufig noch sehr fremden Professionen Brücken zu bauen, Verständnis für fachfremde Aufgabenstellungen zu fördern, Denkfehler aufzudecken, disziplinübergreifende Wissenslücken zu schließen oder Übersetzungshilfen bei Verwendung von unterschiedlichen "Disziplin-Sprachen" zu leisten. Mein Wissen, das über das klassische "barrierefreie" Bauen hinausgeht, fördert zum Beispiel. demografiegerechte Lösungen, empowerndes (stärkendes) Bauen, gleichberechtigte Teilhabe- und Wahlmöglichkeiten für Menschen mit und ohne Pflege- oder/und Assistenzbedarf sowie ressourcenfördernde Vielfaltsentwicklungen beim Wohnen, Lernen, Arbeiten und Leben in der Gesellschaft.
Warum sprechen Sie vom "sogenannten barrierefreien" Bauen?
Beim "barrierefreien" Bauen wird leider entgegen den Zielen der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (BRK) der Fokus viel zu häufig auf die Defizite gelegt. Die BRK fordert hingegen ein Universal Design ohne diskriminierende Sondergestaltungen sowie größtmögliche Selbstbestimmung und Autonomie für alle Menschen. Eine entsprechende Gestaltung von Räumen, die Fähigkeiten von Menschen stärkt und Potentiale entfalten lässt, ist aus meiner Sicht gefragt: eine empowernde und demografiegerechte Architektur, die niemanden ohne Grund ausschließt, sondern Inklusion Realität werden lässt. Beim Thema "barrierefreie" Wohnungen in den verschiedenen Landesbauordnungen (LBOs) hier in Deutschland kann ich mein Anliegen verdeutlichen. Die LBOs fordern nur einen ganz geringen Teil an "barrierefreien" Sonderwohnungen, die den veränderten Bedarf aufgrund des demografischen Wandels meiner Meinung nach nie abdecken können. Selbst Immobilienverbände befürchten eine immense "graue Wohnungsnot" für ältere Menschen. Ich denke, wir benötigen eine Baugesetzgebung, die grundsätzlich nur schwellenfreie, benutzerfreundliche, demografiegerechte und inklusive Neubauwohnungen mit den bewährten Mindeststandards vorschreibt.