Am 1. Januar 2017 soll es in Kraft treten: das neue Bundesteilhabegesetz (BTHG). Es soll die Teilhabe in der Gesellschaft und das selbstbestimmte Leben von Menschen mit Behinderung grundlegend verbessern. Doch nie zuvor hat ein Gesetzesentwurf für so viel Gegenwind gesorgt. Aktivisten demonstrieren für ihre Rechte und gegen dieses Gesetz. REHACARE.de hat mit Aktivist Ottmar Miles-Paul und der Parlamentarischen Staatssekretärin beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) Gabriele Lösekrug-Möller über die Kritik und deren Folgen gesprochen.
Artikel 1 des Grundgesetzes (GG) besagt, dass alle Menschen gleich sind. Artikel 3 besagt, dass niemand, unter anderem wegen seiner Behinderung, benachteiligt werden darf. Doch aktuell fühlen sich Menschen mit Behinderung in Deutschland immer noch benachteiligt, obwohl ständig an diesen Gesetzgebungen gearbeitet wird. So wurde am 19. Juli 2016 eine neue Fassung des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) verabschiedet, welches die Bestimmungen für die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und die Inklusion umsetzt, um eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft und ein selbstbestimmtes Leben zu garantieren. Auch das neue BTHG soll Verbesserungen bringen.
"5 aus 9" – klingt nach einem Spiel, ist es aber nicht
Ottmar Miles-Paul sieht nur sehr wenige Verbesserungen des 382-seitigen Gesetzesentwurfes. Er ist einer der Verantwortlichen der Seite teilhabegesetz.org, die vor drei Jahren an den Start gegangen ist, sich gegen den Entwurf ausspricht und mit Hilfe von Protestaktionen und einer Online-Petition versucht, den Entwurf an die UN-BRK anzupassen. "Wir müssen momentan nicht dafür sorgen, dass Verbesserungen durchgesetzt werden, sondern das Verschlechterungen verhindert werden." Als Beispiel führt er, im Interview mit REHACARE.de, zwei Punkte an. "Menschen mit Behinderung soll zukünftig der Zugang zu Leistungen erschwert werden. Für die Eingliederungshilfe müssen, laut Paragraph 99, fünf von neun Lebensbereiche eingeschränkt sein, um unterstützt zu werden. Dies ist eine große zusätzliche Hürde." Die neun Punkte lauten wie folgt:
Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben
Nur wer in fünf von diesen Bereichen eingeschränkt ist, hat einen Anspruch auf Unterstützung des Staates. Braucht zum Beispiel eine sehbehinderte Studentin eine Lesehilfe für die Bibliothek, so wird sie diese nicht zugesichert bekommen, da sie wahrscheinlich nur in den drei Punkten 1, 2 und 8 eingeschränkt wäre, führt Miles-Paul als Beispiel an. "Dies ist nicht der Gedanke der personenzentrierten Hilfe. Man sollte danach schauen, welche Hilfe ein Mensch benötigt und sollte diese dann auch zur Verfügung stellen, egal ob diese Person weniger als fünf Punkte abdeckt", sagt er.
Gabriele Lösekrug-Möller, die Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales sieht in dem Gesetzesentwurf hingegen Verbesserungen: "Ich bin davon überzeugt, dass wir mit dem BTHG die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung insgesamt verbessern. Der Bund bringt hierfür jährlich 700 Millionen Euro zusätzlicher Mittel auf." Verschlechterungen soll es ihrer Meinung nach nicht geben. "Um das auch wirklich ausschließen zu können, werden wir die Umsetzung des BTHG begleiten und evaluieren. Erste Ergebnisse sollen noch vor 2020 vorliegen, so dass der Gesetzgeber noch vor Inkrafttreten der reformierten Eingliederungshilfe etwaigen, sich abzeichnenden Fehlentwicklungen gegensteuern kann."
Menschen mit Behinderung befürchten, dass ihr selbstbestimmtes Leben in Gefahr ist
In Artikel 19 der UN-BRK wird das Recht auf unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft beschrieben. Danach können behinderte Menschen frei entscheiden mit wem, wo und wie sie leben möchten. Sie sind nicht verpflichtet in einer besonderen Wohnform, zum Beispiel in einem Heim zu leben. In diesem Zusammenhang müssen eine Reihe gemeindenaher Unterstützungsmöglichkeiten – einschließlich des Modells der Persönlichen Assistenz – gewährleistet werden. "Um nicht im Heim leben zu müssen, muss man dann neuerdings eine Begründung abgeben, warum eine Person dort nicht leben kann und will", erklärt Miles-Paul. Somit wird im aktuellen Gesetzentwurf eine unabhängige Lebensführung nicht gewährleistet und ist an bestimmte Voraussetzungen gebunden. "Dies sind aber nur zwei wichtige Punkte. Es gibt noch viel mehr. Deswegen gehen wir auf die Straße und demonstrieren für unsere Rechte."
Deutschland befindet sich im Vergleich mit anderen Ländern im Mittelfeld
Und wie sieht es in anderen Ländern aus? Kann Deutschland sich vielleicht woanders "eine Scheibe abschneiden" oder sind wir doch bereits der Vorreiter zu einem barrierefreien Deutschland mit einem guten Teilhabegesetz? Aktivist Miles-Paul findet: "Im Sinne der UN-BRK wäre es in der heutigen Zeit schön, wenn andere Länder sich an Deutschland ein Beispiel nehmen könnten, aber dies ist aktuell leider nicht der Fall." Laut Miles-Paul bewegt sich Deutschland im Mittelfeld. Eine Mischung aus den Barrierefreiheit-Standards der USA, der Unterstützungsangeboten wie einer Assistent aus Schweden und die barrierefreien Taxen aus London wäre für ihn ein "Idealland".
Auch Lösekrug-Möller findet, dass die Barrierefreiheit in Deutschland weiter ausgebaut werden muss. "In einigen Ländern findet die barrierefreie Umweltgestaltung auf unterschiedlichen Ebenen eine große Beachtung. So werden in Großbritannien, Spanien und Griechenland aktuelle Berichterstattungen über politische Entwicklungen im Fernsehen – zum Teil auch live – mit einem Gebärdensprach-Dolmetscher für gehörlose Menschen übertragen." Aber auch im Alltag sieht sie noch einige Baustellen. "Wenn es um barrierefreie Cafés, Supermärkte, Arztpraxen und Kinos geht, muss Deutschland besser werden."
Menschen gehen auf die Straße und ins World Wide Web für ihre Rechte
Eine große Präsenz ist ebenfalls in den Social Media-Kanälen zu verzeichnen. Unter dem Hashtag #nichtmeingesetz wird unter anderem auf Aktionen und Forderungen aufmerksam gemacht. "Der Bundesrat hat sich mit rund 100 Änderungsanträgen eingebracht", erklärt Lösekrug-Möller. Diese Anträge werden nun geprüft, es wird geschaut, wo Nachbesserungen nötig sind. Auch Miles-Paul findet, dass die Politik den Gesetzesentwurf noch einmal überdenken sollte: "Wenn ein Gesetz auf so massive Widerstände stößt und das soziale Miteinander so massiv verändern wird, sollten die Gesetzgeber noch einmal innehalten und genau überlegen, wo vielleicht doch noch Baustellen sind, die beseitigt werden müssen." Frau Lösekrug-Möller empfindet es als sehr wichtig, dass Menschen mit Behinderung für ihre Rechte kämpfen: "Ich sehe darin den Beleg für das gewachsene Selbstbewusstsein, für politisches Engagement, für den Willen, für die eigenen Interessen vernehmbar und nachdrücklich einzutreten."
Dies sind nur einige Aspekte, die in der aktuellen Berichterstattung aufgegriffen wurden, es gibt noch viel mehr Punkte, die kritisiert werden. Eine hundertprozentige Einigung oder einen Kompromiss wird es in naher Zukunft wohl nicht geben. So lange sich an dem Entwurf des BTHG nichts ändert und die Änderungsanträge nicht geprüft worden sind, werden die Menschen weiterhin auf die Straße gehen und für ihre Rechte kämpfen. Doch viel Zeit bleibt für eine Änderung nicht mehr, denn in drei Monaten soll das BTHG bereits verabschiedet werden.