Barrierefreie Arztpraxen sind in Deutschland Mangelware
Barrierefreie Arztpraxen sind in Deutschland Mangelware
01.06.2017
Eine qualitativ hochwertige und vor allem barrierefreie Gesundheitsversorgung ist elementar wichtig, macht sie doch einen Aspekt von Teilhabe aus, wie sie in der UN-Behindertenrechtskonvention gefordert wird. Doch wie sieht es tatsächlich in deutschen Arztpraxen aus? Und was bedeutet Barrierefreiheit in diesem Kontext konkret?
Bundesweit gibt es rund 200.000 Arzt- und Therapiepraxen. Doch über 80 Prozent davon sind für Menschen mit Behinderung nicht oder nur eingeschränkt zugänglich. Aufgrund dieser Zahlen hat die Unionsfraktion Ende April mit Vertretern von Ärzten, Krankenkassen und Betroffenen darüber beraten, wie die medizinische Versorgung besser werden kann.
Der Beauftragte für Menschen mit Behinderungen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Uwe Schummer, fasste das Fachgespräch wie folgt zusammen: "Gefordert wurde, in jeder Region ein Mindestmaß an vernetzten barrierefreien Praxen zu schaffen. Für ein flächendeckendes Angebot ist aus Sicht aller Experten ein KfW-Förderprogramm nötig – so wie es für den altersgerechten Umbau von Wohnungen bereits zur Verfügung steht", so Schummer in einer Pressemitteilung. "Zusätzlich brauchen Ärzte für den barrierefreien Auf- oder Umbau ihrer Praxen ein Zuschussprogramm des Bundes." Nur so könne es sichergestellt werden, dass schnell spürbare Verbesserungen für die Patientinnen und Patienten eintreten. Schummer forderte, die Entwicklung in einem eigenen Fortschrittsbericht der Bundesregierung festzuhalten.
Des Weiteren ging es außerdem darum, "dass die Kosten für den Einsatz von Gebärdensprachdolmetschern in Krankenhäusern in den Fallpauschalen der Krankenkassen enthalten sind. Das Sozialgericht Hamburg hatte im März bestätigt, dass jeder gehörlose Patient ein Anrecht auf einen Gebärdensprachdolmetscher hat". Schummer betonte, dass die Krankenhäuser dies sicherstellen müssen.
Was sollten barrierefreie Arztpraxen im Idealfall bieten?
Denn was scheinbar oft vergessen wird: Barrierefreiheit bezieht sich nicht nur auf rein bauliche Maßnahmen. Sie ist deutlich umfassender und mit jeder unterschiedlichen Art der Behinderung ergeben sich auch andere Bedürfnisse und Anforderungen an eine barrierefreie Arztpraxis.
Patientinnen und Patienten, die einen Rollstuhl nutzen, brauchen nicht nur einen barrierefreien Zugang in Form einer Rampe und eines Fahrstuhls oder eines komplett ebenerdigen Eingangsbereiches. Wichtig sind außerdem leicht zu öffnende Türen oder automatische Türöffner. Außerdem sollte in den Behandlungsräumen genug Platz für das Navigieren mit dem Rollstuhl sein. Untersuchungsliegen sollten höhenverstellbar sein und die Untersuchungsgeräte gegebenenfalls tragbar. Oft fehlen außerdem barrierefreie Umkleiden, etwa beim Frauenarzt, und barrierefreie Toiletten. Auch einen freien Platz im Wartezimmer und einen Parkplatz in unmittelbarer Nähe würden sich viele Menschen mit körperlichen Einschränkungen wünschen.
Gehörlosen Menschen sollten in Arztpraxen eine eigenständige Kommunikation ermöglicht werden – entweder mit Gebärdensprachdolmetschung oder schriftlich vor Ort. Auch ist zu bedenken, dass Patientinnen und Patienten mit einer Hörbehinderung nicht aufgerufen, sondern beispielsweise im Wartezimmer abgeholt werden. Bei Schwerhörigkeit sollte das Praxispersonal zwar deutlich und mit Blickkontakt sprechen, nicht aber zu laut oder übertrieben deutlich. Hilfreiche Broschüren für Ärzte und Patienten gibt es als PDF-Download beim Deutschen Gehörlosenbund.
Für sehbehinderte und blinde Menschen sind wiederum Blindenleitsysteme wichtig. Gerade in größeren Gebäuden ist außerdem eine Braille-Beschriftung in Aufzügen und im Treppenhaus sowie eine Sprachausgabe der Etagen im Aufzug hilfreich.
Autistinnen und Autisten wird bereits vorab eine große Hürde genommen, wenn Terminvereinbarungen per E-Mail oder Online-Terminkalender statt telefonisch erfolgen können. Eine aussagekräftige Webseite mit Bildern von der Praxis bereitet sie im Idealfall vorab auf die Gegebenheiten vor Ort vor.
Vielen ist außerdem damit geholfen, wenn sie nicht lange im lauten Wartezimmer sitzen müssen und zwischendurch gehen oder in einen ruhigeren Wartebereich wechseln können. Auch optische und akustische Reize wie Musik, Radio, TV oder flackerndes Licht können den Aufenthalt im Wartebereich erschweren. Eine klare Kommunikation vor der eigentlichen Behandlung beziehungsweise Untersuchung sowie das Respektieren von eventuellen Problemen mit Berührungen hilft im Übrigen nicht nur Autisten, sondern auch Menschen mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Auch hier empfiehlt es sich zusätzlich, sich Zeit und Ruhe zu nehmen und gesetzte Grenzen wie beispielsweise den ausschließlichen Behandlungswunsch durch Frauen entsprechend zu respektieren.
Respekt und Offenheit für Bedürfnisse sowie keinerlei Berührungsängste und eine gewisse Bereitschaft Lösungen zu finden, sollten sowieso die selbstverständliche Grundlage für alle ärztlichen Behandlungen sein.
All diese unterschiedlichen Anforderungen gelten übrigens grundsätzlich auch für Therapieeinrichtungen wie Logopädie, Ergotherapie, Psychotherapie, Physiotherapie oder auch für Apotheken. Rollstuhlfahrerin und Bloggerin Ju / Wheelymum weiß allerdings: "Auch hier ist Barrierefreiheit keine Selbstverständlichkeit, sondern eher Glückssache." Dabei würde Barrierefreiheit in all diesen Einrichtungen beispielsweise auch Senioren oder Eltern mit Kinderwagen nützen – nicht nur Menschen mit Behinderung.