Doch Barrierefreiheit meint nicht immer nur eine Rampe oder einen Aufzug. Sie sollte im Idealfall auch andere Behinderungen einschließen. Rainer J.* ist beispielsweise blind und hat feststellen müssen, dass das Personal in Krankenhäusern und Praxen oft generell nicht geübt ist im Umgang mit blinden Menschen. "Sie verhalten sich furchtbar umständlich mit dem Anfassen und Führen", sagt er. "Das Phänomen, dass die Menschen, sowohl Arzt als auch Angestellte, gern die begleitende Person statt mich direkt angucken und ansprechen, ist leider auch weit verbreitet. Das ist im Gesprächsfluss mal mehr, mal weniger spürbar. Dem begegne ich, indem ich die begleitende Person von den Gesprächen fernhalte." Doch auch das sei oft ärgerlich gewesen, weil Rainer J. gerne eine zusätzliche Einschätzung der Wiedergabe des doch recht komplizierten medizinischen Sachverhalts gehabt hätte.
Und dann gibt es noch die Behinderungen, die nicht auf den ersten Blick erkennbar sind – wie etwa bei Kerstin M.*: "Meine Behinderung ist unsichtbar; selbst wenn andere Menschen mit mir interagieren, merken sie oft zuerst nicht, dass ich autistisch bin. Meine Probleme sind aber trotzdem da, auch wenn ich sie gut kompensieren kann. Im Kontext von Arztterminen klappt das mit der Kompensation nämlich nur bedingt. Allerdings ist Barrierefreiheit für Autisten ein Konzept mit vielen Ausprägungen. Darum kann ich nicht erwarten, dass eine Praxis bereits barrierefrei ist, ohne dass ich im Speziellen um Unterstützung bitte." Sie und viele andere Autisten profitieren aber beispielsweise schon davon, wenn schriftliche und digitale Kommunikation möglich gemacht wird – im Voraus zur Terminvereinbarung sowie auch im Falle von Nachfragen zu verordneten Medikamenten.
"In solchen Situationen ist es super für mich, wenn ich eine Mail schreiben kann. Das erwarte ich aber nicht – ich wünsche es mir nur, weil es für mich eine große Barriere beseitigt", sagt die junge Frau. "Die Zahl der Praxen mit Webseite und digitalen Kommunikationskanälen oder Terminvereinbarungsmöglichkeiten im Netz steigt aber seit Jahren stetig, und das ist wirklich super! Inzwischen suche ich mir neue Ärzte sogar gezielt danach aus, ob sowas vorhanden ist oder nicht."
Wichtig sei in jedem Fall, dass sich Ärzte etwas Zeit für sie als Patientin nehmen und sie nicht einfach nur wie am Fließband durchwinken. "Sich Zeit zu nehmen ist eine gute Basis, um Lösungen zu finden und auch, um problematische Situationen entschärfen zu können. Das muss gar nicht viel Zeit sein, aber es hilft sehr, wenn zu Beginn des ersten Termins bei einem neuen Arzt ein paar Minuten vorhanden sind, in denen ich erklären darf, was es mit der unsichtbaren Behinderung auf sich hat und was Barrierefreiheit für mich bedeutet."
Der Unterschied zwischen einem barrierearmen Termin, bei dem man auf ihre Probleme eingeht, und einem, bei dem das nicht passiert, ist daran sichtbar, wie es Kerstin M.* anschließend geht: "Wenn man mich nicht ernst nimmt, bin ich danach oft so überreizt und überanstrengt, dass ich den restlichen Tag im Bett verbringen muss. Wenn Ärzte und Arztpraxen auf diese 'weiche', individuelle Barrierefreiheit achten, kann ich danach aber oft ganz normal an die Uni gehen, einkaufen und andere Dinge erledigen."
Ob nun Autismus oder eine körperliche Behinderung – eine wichtige Basis ist grundsätzlich schon dann gegeben, wenn das medizinische Personal keine Berührungsängste hat und kompromissbereit ist. Denn die Barrierefreiheit im Kopf ist oft noch die größte Hürde, die es zu überwinden gilt.
* = Name von der Redaktion geändert