Denn die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist weder für Menschen mit sichtbaren noch mit unsichtbaren Behinderungen eine Selbstverständlichkeit. Vor allem bei nicht sichtbaren Symptomen mangelt es häufig an Verständnis und es kommt zu Vorurteilen und Fehleinschätzungen durch Andere. Denn was nicht sichtbar ist, wird schnell auch in seiner Existenz angezweifelt. Diese Umstände können für die betroffenen Personen selbst eine ziemliche Herausforderung darstellen.
Tillmann hat eine umfangreiche Studie zu Diskriminierungserfahrungen bei einer seltenen chronischen Erkrankung, dem Lupus erythematodes, gemacht. Lupus geht mit sichtbaren und unsichtbaren Symptomen einher. "52 Prozent der Befragten wurde aufgrund einer krankheitsbedingten Leistungsminderung unterstellt, dass sie 'faul' seien. 46 Prozent wurde aufgrund der Unsichtbarkeit bereits mitgeteilt, dass sie 'simulieren' würden", berichtet Tillmann. "Dies sind falsche Interpretationen oder Vorurteile, die nicht nur die Gruppe der Lupuskranken betrifft. Gerade bei unsichtbarer Beeinträchtigung greifen die beiden Kategorisierungen 'faul' und/oder 'Simulant' sehr schnell." Menschen versuchen, sich ihre Umwelt zu erschließen, indem sie sich diese erklären, so Tillmann. Und so bringen unsichtbare Behinderungen nicht nur die Betroffenen in immer wieder auftretende Erklärungsnot, sondern auch die Mitmenschen versuchen, sich das Unerklärbare zu erklären, und dabei treten häufig Missverständnisse auf.
Von Symptomen wie Erschöpfung und Müdigkeit sind sehr viele chronisch kranke Menschen betroffen. Man kann diese bleierne Erschöpfung oder Fatigue als unsichtbare Behinderung bezeichnen. Denn diese Symptome schränken die betroffenen Personen stark ein und werden oft nicht mit der eigentlichen, unsichtbaren Grunderkrankung in Verbindung gebracht – wie beispielsweise Katarina B. im Interview mit REHACARE.de verrät.
"In meiner Studie erlebten über 90 Prozent bereits aufgrund von Erschöpfung oder Müdigkeit Unverständnis und in der Folge Benachteiligungen, etwa 60 Prozent erlebten dies sogar häufig oder sehr häufig", berichtet Tillmann. "Es ist bei diesem Beispiel also ein sehr hoher Prozentsatz von Diskriminierung betroffen."
Die Wissenschaftlerin stellt außerdem fest, dass in Forschungsarbeiten und Debatten zu Inklusion und Barrierefreiheit immer noch viel zu häufig Menschen mit unsichtbaren Behinderungen und deren Bedürfnisse übersehen werden. Barrierefreiheit wird in der Regel am ehesten mit Rampen, Gebärdensprachdolmetschen und vielleicht noch Leichter Sprache verbunden. "Was aber ist mit den Menschen, die aufgrund einer schweren Erkrankung oder aggressiven medikamentösen Therapie, etwa einer Chemotherapie, unsichtbare Einschränkungen wie eine starke Erschöpfung haben?", wirft Tillmann ein. "Für sie würde Barrierefreiheit bedeuten, dass sie an Konferenzen per Videoschaltung teilhaben können oder dass Teamsitzungen über sogenannte 'virtuelle Klassenzimmer' erfolgen."
Tillmann weist zusätzlich darauf hin, dass es wünschenswert, aber nicht unproblematisch sei, Menschen mit chronischer Erkrankung und Menschen mit Behinderung gleichzustellen. Das Problem liege in der Tatsache begründet, dass in Deutschland chronische Krankheit, im Gegensatz zu Behinderung, nicht als Diskriminierungsmerkmal im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz aufgeführt ist. "Es ist nicht leicht feststellbar, ob und wie chronisch erkrankte Menschen dem aktuellen juristisch definierten Behinderungsbegriff unterliegen. Für chronisch kranke Menschen kann dies eine große Hürde sein", sagt Tillmann.
Sie ist überzeugt, dass sich die Diskriminierungserfahrungen chronisch kranker Menschen, die häufig unsichtbar behindert sind und werden, durch eine entsprechende Klarstellung durch den Gesetzgeber verringern würden. In anderen europäischen Ländern wie den Niederlanden oder Rumänien sei eine chronische Erkrankung bereits ein eigenes Diskriminierungsmerkmal. Dies ist für Deutschland noch Zukunftsmusik, aber sei durchaus wünschenswert. "Neben einem gesetzlichen Diskriminierungsschutz brauchen wir für die barrierefreie Gestaltung der Umwelt für Menschen mit chronischer Erkrankung noch viele kreative Lösungen und Diskussionen."