Sie haben die Assistiven Technologien gerade erwähnt. Welche Hindernisse gibt es in Sachen Barrierefreiheit bei den neuesten technischen Errungenschaften?
Maia: Bezüglich digitaler Barrierefreiheit kann leider keines der vier untersuchten Länder als gutes Beispiel dienen. Trotz vielfältiger politischer Bemühungen der Europäischen Kommission ist die Umsetzung in dieser Hinsicht immer noch sehr gering und bezieht sich hauptsächlich auf die Zugänglichkeit zu Websites des öffentlichen Sektors. Wesentlich scheinen hier das Fehlen von Übergangsfristen beziehungsweise fehlende Sanktionen bei mangelnder Umsetzung zu sein. Es bleibt aber zu erwarten, dass eine Vielzahl heute bestehender Barrieren durch den Europäischen Rechtsakt zur Barrierefreiheit (EAA) künftig überwunden werden können.
Aber auch in anderen Bereichen zeigten unsere Ergebnisse, dass oftmals technische Lösungen nicht den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung entsprechen. Ein besonderes Augenmerk auf den Entwicklungsprozess von Technologie erscheint hier zentral. Wie bereits in vielen anderen Untersuchungen dargelegt wurde, ist ein Ko-Kreationsprozess zwischen Technologieentwicklern und potenziellen Nutzern (Menschen mit Behinderung) in einer frühen Phase der Produktentwicklung sehr hilfreich, um sicherzustellen, dass die Zukunftstechnologien wirklich den Bedürfnissen und Erwartungen der Endverbraucher entsprechen und von ihnen gut angenommen werden.
Nierling: In unserer Studie zeichnete sich ab, dass Menschen mit Behinderung insgesamt eine große Offenheit für Technologien haben. Allerdings ist es zentral, diese technischen Lösungen immer zusammen mit dem sozialen Kontext gedacht werden müssen, in denen Menschen mit Behinderung diese Technologien nutzen. Als Beispiel: Obwohl es sehr viele, qualitativ hochwertige Technologien zur Integration von Menschen mit Behinderung in den Arbeitsmarkt gibt, etwa Virtual reality tools für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen, hängt der Zugang zum Arbeitsmarkt weniger am Vorhandensein beziehungsweise der Nutzung dieser Technologien, sondern vielmehr an sozialen Barrieren, die bereits in der Bewerbungsphase wirksam sind und (ausschließend) wirken.
Welchen Einfluss haben die jeweiligen Länder auf die Entwicklung und den Zugriff auf diese Hilfsmittel?
Nierling: Ohne Zweifel hat auch im Kontext der Assistiven Technologien die Digitalisierung entscheidende Auswirkungen. So geht eine Entwicklung im Bereich der Assistiven Technologien dahin, diese Technologien viel weniger als Medizinprodukte, sondern vielmehr als "normale" Technologien, gerade vor dem Hintergrund der Digitalisierung zu verstehen, das heißt Einbindung des Smartphones, open access-Software etc. Dies stellt natürlich die derzeitige Regulierung von Assistiven Technologien als Medizinprodukte vor wesentliche Herausforderungen, zwischen Zugang, Innovationspotenzial und Sicherheitsaspekten abzuwägen.
Maia: Allerdings geht es gemäß unseren Ergebnissen oftmals gar nicht um „die perfekte“ Hightech-Lösung, wie zum Beispiel Gehirn-Computer-Schnittstellen oder das bionische Auge, sondern vielmehr darum, technische Lösungen mittlerer Reichweite zu entwickeln – sogenannte „Medium-techs“, bei denen es vielmehr um die soziale Einbettung in den jeweiligen Kontext geht.
Nierling: Gerade im europäischen Vergleich zeigt sich, dass auch im Feld des Technikeinsatzes, die Tradition der nationalen Antidiskriminierungspolitiken eine wesentliche Einflussgröße ist. Für Barrierefreiheit, ob physisch (Gebäude, Mobilität) oder virtuell (Internet), ist eine langfristige Perspektive und Entwicklung wichtig. Während dies zum Beispiel in Schweden seit 35 Jahren gefördert wird, steht beispielsweise Portugal hier erst am Anfang. Der Austausch von "best practices" über die Ländergrenzen in Europa hinweg, aber auch eine sorgfältige Bestandsaufnahme können gerade bei der Nutzung und Bereitstellung von Assistiven Technologien einen wichtigen Beitrag leisten.