Inwiefern profitieren auch Menschen ohne Behinderung oder mit anderen Behinderungen von Ihren Produkten?
Lienert: Sie sprechen damit das Thema Inklusion an. Wenn wir irgendwo zu einem Industriebetrieb oder einer Behörde gerufen wurden, gab es entweder Branchenlösungen oder Fachanwendungen. Alle administrativen Prozesse werden in Software gegossen. Dann heißt es: "Wir haben hier eine blinde Mitarbeiterin, können Sie ihr den Arbeitsplatz anbinden – technisch?" Das Problem ist oft, dass diese Fachanwendungen oder Branchenlösungen entweder mit den Hilfsmitteln nicht bedienbar sind oder nur teilweise.
Bei den Screenreadern gibt es die Möglichkeit, diese über Programmierung zu befähigen, mit einer an sich nicht barrierefreien Anwendung zu kommunizieren. Das nennt sich Scripting oder auch Screenreader-Anpassung. Das wird gemacht, hat aber einen ganz wesentlichen strukturellen Nachteil: Wenn sich die Software ändert, brechen diese Anpassungen weg, und dann können unsere Kund*innen nicht arbeiten und es muss wieder gescripted werden. Das heißt, es vergeht Zeit und es fließt Geld. Aber die Kund*innen haben hinterher genau dasselbe Problem, was sie vorher hatten, nur dass sie halt ausgebremst wurden. Dann heißt es, "Wir haben einen Blinden, aber auf den können wir uns nicht verlassen, weil die Technik nicht zuverlässig ist.". Das heißt, eine Eigenschaft eines technischen Systems wird hier einem Menschen zugeschrieben. Das fanden wir immer uncool.
Außerdem haben unsere Ingenieure – damals hatten wir nur Männer – gesagt, dieses Scripting sei langweilig, das sei immer das Gleiche und man löse die Probleme nicht wirklich damit. Irgendwann haben wir uns vorgenommen, inklusive Software zu entwickeln. Dann haben wir mit Kollegen und Freunden und anderen Firmen gesprochen. Die haben uns abgeraten, weil „wir viel zu klein wären, das würden wir eh nicht schaffen“. Ich finde, man muss als Unternehmer eine gewisse Sturheit haben. Dass einem egal ist, was andere denken. Wir machen es einfach. Und das haben wir getan.
Sie können sich das so vorstellen: Wir haben angefangen für den allgemeinen Markt Software zu entwickeln, die halt für Sehbehinderte und Blinde und andere Zielgruppen hochoptimiert ist, aber selbstverständlich auch für Sehende. Der Witz an der Sache ist: Wenn Sie eine Software barrierefrei oder sogar inklusiv machen, hat das sogar Vorteile für die Nichtbehinderten. Beispielsweise wenn die Schalter überall Shortcuts haben – denn es gibt ja auch Sehende, die mit der Tastatur schneller arbeiten, als wenn sie die Maus benutzen – dann brauchen Sie Shortcuts. Bei so ganz banalen Sachen fängt es an.
Wir haben dann ein System für Telefonvermittlung entwickelt: Unser Produkt DL ETB – ETB steht für Elektronisches Telefonbuch – ist mittlerweile im Einsatz im Bundeskanzleramt, Bundesgerichtshof, Bundesluftfahrtamt, in Regierungspräsidien, Krankenhäusern, Universitäten und Industriebetrieben. Das ist der Hammer, weil die Sehenden den Blindenarbeitsplatz erleben und feststellen: "Das will ich auch haben." Und schwupps haben wir drei, vier, fünf Sehende und dann arbeiten alle mit einem System. Das ist das, was wir inklusive Systeme nennen. Barrierefreie Systeme sind so, dass im Prinzip ein blinder Mensch damit arbeiten kann, aber inklusive Systeme sind nochmal für die Zielgruppen optimiert. Da sind wir momentan weltweit die einzige Firma, die solche Software baut. Allmählich spricht sich das aber herum, und deswegen läuft es seit Jahren schon richtig gut für uns.
Sie sind im Vorfeld vor Ort zur Bedarfsanalyse. Da sprechen Sie mit allen, die das Produkt dann in der Anwendung betrifft?
Lienert: Wir fahren raus, machen eine technische Evaluation, um zu sehen, welche Systeme im Einsatz sind, wie wir da die Anbindung schaffen. Wichtig sind aber auch die Räumlichkeiten. Wenn beispielsweise jemand mit Sprachausgabe in einem Großraumbüro arbeitet, dann empfehlen wir, das zu ändern, weil das massiver Stress ist.
Wir schauen, wie die Situation im Team ist: Hat der Betreffende eine gute Position oder wird um den Arbeitsplatz gekämpft? Wie ist die Unterstützung von der Schwerbehindertenvertretung? Da gibt es auch Leute, die einfach nichts machen. Die meisten sind aber hilfreich. Wie ticken die Leute? Wie ist der Chef oder die Chefin? Wie ist der oder die Personalchef*in? Diese Vor-Ort-Besuche schließen für uns das Projekt auf. Wenn die Leute merken, dass es eine Lösung gibt, dann macht das den Unterschied.
Meistens funktioniert das gut. Wir hatten allerdings auch schon Vor-Ort-Termine, wo wir festgestellt haben, dass wir kaum etwas machen müssen, weil es nur daran hängt, dass die betreffende Person lernen muss, die Hilfsmittel zu bedienen. Beispielsweise hatte die Person keine richtige Schulung in Sachen Screenreader oder Vergrößerungssoftware.