Er erhebt die Stimme für die Inklusion, seine Worte werden gehört und gelesen. Doch das reicht Raúl Krauthausen nicht. Er findet, dass sich die Situation für Menschen mit Behinderung in Deutschland verschlechtert, vor allem an den Schulen. Wie Begegnungen daran etwas ändern können, dazu hält er auf der REHACARE 2022 einen Vortrag (16. September 2022, 13 Uhr, PRODUCTS & NEWS@REHACARE-Bühne in Halle 4, Stand H07). Im Interview erklärt der Inklusions-Aktivist, warum Menschen mit Behinderung nicht wie exotische Wesen behandelt werden sollen.
Du bist auf vielen Feldern unterwegs: Medienmacher, Aktivist, Blogger, Buchautor… Womit beschäftigst du dich am liebsten?
Raúl: Momentan produziere ich besonders gern Podcasts. Dafür habe ich zwei verschiedene Reihen ins Leben gerufen. In der einen geht es um Aktivismus. Für die andere fahre ich mit Menschen im Aufzug und befrage sie. Ich habe Spaß daran, mir zu überlegen, was ich von einer bestimmten Person immer schon mal wissen wollte. Ein Beispiel dafür ist Sabine Werth, Vorsitzende der Berliner Tafel. Das ist die älteste Tafel in Deutschland. Ich habe mich mit ihr darüber unterhalten, ob sie es als Erfolg ansieht, wenn die Tafel sich immer mehr ausweitet – oder ob das nicht eher als Warnzeichen gedeutet werden muss. Denn je größer die Tafel ist, desto mehr Bedürftige gibt es ja. Die Antwort kann man in dem Podcast auf meiner Seite hören (https://raul.de).
Dein Einsatz gilt den Themen Inklusion und Barrierefreiheit. Wie steht es in dieser Hinsicht um Deutschland, wenn du Noten geben müsstest?
Raúl: Das werde ich immer wieder gefragt – im Grunde warte ich darauf, dass ich darauf nicht mehr antworten muss. Bei mir entsteht der Eindruck, dass die meisten Deutschen Inklusion als ein leidiges Thema ansehen. Sie möchten am liebsten, dass es sich erledigt und sie sich anderen Dingen zuwenden können. Aber so einfach ist es nicht. Denn je mehr man sich damit beschäftigt, desto mehr Missstände kommen ans Tageslicht. Ich sehe es ähnlich wie bei den Frauenrechten – da fragt ja auch keiner mehr danach, wann die endlich durchgesetzt sind. Und wir diskutieren jetzt mehr als 100 Jahre nach der Einführung des Wahlrechts für Frauen darüber, dass Parteien wie die CDU immer noch von Männern dominiert werden.
Wenn ich partout antworten soll, müsste ich sagen: Deutschland liegt in Sachen Inklusion im europaweiten Vergleich im hinteren Mittelfeld. Vor allem skandinavische Länder wie Schweden sind mindestens zehn Jahre weiter als wir. Da müssen zum Beispiel alle Stockwerke von neuen Gebäuden barrierefrei sein. Das hören die Deutschen aber auch nicht gern, dass sie in irgendeinem Bereich nicht auf dem Weg zum Weltmeister sind.
Wo brennt es am meisten, was müsste dringend geändert werden?
Raúl: Die Privatwirtschaft und Unternehmen insgesamt müssen zur Barrierefreiheit verpflichtet werden. Es kann nicht sein, dass wir dort das Feld immer noch Menschen ohne Behinderung überlassen – da muss sich grundsätzlich etwas ändern. Ich mag nicht mehr bei Einzelaktionen klatschen, nur weil zum Beispiel irgendein ländlicher Bahnhof einen Aufzug bekommen hat. So etwas sollte selbstverständlich sein.
Gibt es Dauerbrenner-Themen oder ändert sich nach deiner Erfahrung auch einiges – zum Guten oder Schlechten?
Raúl: Tja, das ist auch wieder so etwas – die Deutschen möchten im internationalen Vergleich gern gut dastehen und wollen positive Beispiele hören. Dabei machen wir hierzulande aus meiner Sicht eher Rückschritte, zum Beispiel wenn man in den Bildungsbereich schaut. In den 80er Jahren, als ich zur Schule ging, habe ich Vielfalt in den Klassen als selbstverständlich empfunden – es gab zum Beispiel den zappeligen Philipp, die stille Lisa… Heute bekommen diese Kinder immer häufiger Diagnosen wie ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, d. Red.). Und die Lehrenden ziehen sich darauf zurück, dass sie sich damit nicht auskennen, weil sie dafür nicht ausgebildet wurden. Dann werden die Kinder in Förderschulen gesteckt.
Ich meine, dass nicht hinter jedem Schüler mit Behinderung eine Fachkraft stehen muss. Die Eltern wurden für den Umgang mit ihren Kindern ja auch nicht ausgebildet. Gemeinsame Bildung ist aus meiner Sicht ein Grundrecht, über das man nicht ständig diskutieren muss.
Welche Rolle spielt die REHACARE aus deiner Sicht auf dem Weg zu mehr Barrierefreiheit innerhalb der Gesellschaft?
Raúl: Für mich ist die REHACARE mit einer Internationalen Automobilmesse vergleichbar, auf der die Neuigkeiten im Hinblick auf Technik und Hilfsmittel vorgestellt und diskutiert werden. Dabei würde ich mir allerdings wünschen, dass bei der Entwicklung von Innovationen die Menschen, die sie nutzen sollen, mehr mit einbezogen würden. Nicht jede neue Rollstuhlgeneration ist meiner Erfahrung nach automatisch besser. Ich denke, es liegt daran, dass die Hersteller eher mit den Sanitätshäusern Kontakt haben als mit den Kunden.
Außerdem wünschen sich Menschen mit Behinderung in letzter Konsequenz nicht die neueste Konstruktion eines Rollstuhls, der Treppen steigen kann – sie möchten, dass es keine Treppen mehr gibt. Die barrierefreie Umwelt, das ist ein gesellschaftliches Thema.
Welche Erwartungen hast du an die REHACARE 2022?
Raúl: Ich freue mich darauf, bei einem Vortrag am 16. September 2022 über das Thema „Begegnungen“ sprechen zu können. Denn ich denke, dass diese völlig unterschätzt werden. Stets heißt es: Wir sollen Barrieren durch Aufklärung senken. Auf Plakaten steht: Menschen mit Behinderung haben auch das Recht auf Arbeit, Schule, den öffentlichen Nahverkehr… übersetzt gesagt: Habt euch alle lieb. Dabei ist das doch eine Binsenweisheit, mit solchen Aussagen wird meiner Ansicht nach nichts erreicht. Man sagt doch auch nicht: Frauen haben ein Recht auf all das eben Geschilderte. Auf diese Weise bekommen Menschen mit Behinderung einen exotischen Status – völlig unangemessen.
Deshalb also hast du dir das Thema „Begegnungen“ für deinen Vortrag ausgesucht?
Raúl: Genau. Weil ich denke, dass man anderen die Ängste oder Unsicherheit gegenüber Menschen mit Behinderung nur durch Begegnungen mit ihnen nehmen kann – nicht durch Theorien oder Aufklärung über Plakate. In dem Moment, in dem Menschen mit Behinderung ganz selbstverständlich in Eisdielen oder Schulklassen sitzen, anderen begegnen, wären wir im Hinblick auf Inklusion einen Riesenschritt weiter.
Dein aktuelles Buch heißt „Wie kann ich etwas bewegen?“. Dafür hast du mit Benjamin Schwarz bekannte Aktivistinnen und Aktivisten getroffen und dich mit ihnen unterhalten. Was hat dich besonders beeindruckt?
Raúl: Ich habe ja schon von meinen Podcasts erzählt. Das Buch ist ein Resultat aus den vielen spannenden Gesprächen, die ich geführt habe. Allerdings findet man darin keine einzelnen Interviews, sondern es geht darum, was Aktivismus bedeutet. Ein Aktivist ist jemand, der sich mit einem Zustand nicht abfinden möchte und etwas dagegen unternimmt. Das kann nicht jeder, manche haben ja auch Angst vor Öffentlichkeit. Wir wollten im Buch nicht nur auf Probleme hinweisen, sondern Zusammenhänge darlegen und Menschen vorstellen, die Verantwortung übernehmen.
Du möchtest Barrieren überwinden. Wie bewertest du das Barrierefreiheitsförderungsgesetz, nach dem viele Produkte und Dienstleistungen ab Mitte 2025 barrierefrei gestaltet werden müssen?
Raúl: Dazu gibt es jetzt einen neuen Gesetzentwurf, mit dem ich mich noch intensiver befassen werde. Grundsätzlich kann ich aber schon sagen, dass das Gesetz seinen Namen nicht verdient. Denn die Barrierefreiheit wird nur für bestimmte Produkte wie Smartphones oder Apps vorgeschrieben. Und nehmen wir nur mal das Beispiel Geldautomat bzw. Bankterminal: Ein solcher Automat muss bis 2035 so ausgerichtet sein, dass er problemlos auch von Menschen mit Seh- oder Hörbehinderungen bedient werden kann. Für Menschen im Rollstuhl wie mich gibt es jedoch andere Hürden, die wir überwinden müssen. Das heißt: Möglicherweise steht im Jahr 2035 ein barrierefreier Terminal in einem Gebäude, das nur über eine Treppe erreicht werden kann. Die Frage ist aber auch: Brauchen wir dann überhaupt noch Geldautomaten bzw. Bankterminals?
Über Raúl Krauthausen
Raúl Krauthausen ist Inklusions-Aktivist, Gründer der „Sozialhelden“ – ein gemeinnütziger Verein, der sich mit verschiedenen Aktionen für soziale Gerechtigkeit einsetzt. Er studierte Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation, arbeitet seit vielen Jahren in der Internet-und Medienwelt. Seit 2011 ist Krauthausen Ashoka Fellow (Ashoka ist eine amerikanische Non-Profit-Organisation zur Förderung von sozialem Unternehmertum). 2013 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet und 2014 erschien seine Autobiografie „Dachdecker wollte ich eh nicht werden“. 2021 kam sein neuestes Buch auf den Markt: „Wie kann ich was bewegen?“, gemeinsam mit Benjamin Schwarz erarbeitet. Auf der Homepage https://raul.de gibt es weitere Informationen zur Arbeit von Raúl Krauthausen.
REHACARE Düsseldorf im Überblick:
Die REHACARE ist die weltweit führende Fachmesse für Rehabilitation und Pflege. Sie bietet jährlich im Herbst auf dem Düsseldorfer Messegelände einen repräsentativen Überblick über Hilfen und aktuelles Wissen für ein selbstbestimmtes Leben. Einen Blick hinter die Kulissen gibt es im neuen Forum PRODUCTS & NEWS@REHACARE in Halle 4, Stand H07. Die Teilnahme an den Ausstellervorträgen im Forum ist für Besucherinnen und Besucher mit gültiger REHACARE-Eintrittkarte kostenlos.
Düsseldorf, 28. Juli 2022