Die Art, wie wir reisen, ändert sich – ebenso wie der Tourismus. Das hat nicht nur mit ökologischer Nachhaltigkeit zu tun, sondern auch mit den Ansprüchen einer älter werdenden Gesellschaft: Reiseangebote müssen entsprechend den Bedürfnissen von Menschen mit Beeinträchtigungen gestaltet werden – das erklären Thomas Corinth und Professor Dr. Felix M. Kempf, Herausgeber des Buchs „Barrierefreier Tourismus“ im Interview. Die Messe REHACARE 2023 bietet vom 13. bis zum 16. September 2023 die gesamte Bandbreite von Unterstützungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen – auch im Hinblick auf unbeschwertes Reisen.
Welchen Herausforderungen begegnen Menschen mit Einschränkungen, wenn sie sich auf Reisen begeben?
Kempf: Das lässt sich gar nicht generell sagen, denn jede bzw. jeder hat seine individuellen Bedürfnisse. Es kommt beispielsweise darauf an, ob man eine Einschränkung beim Sehen hat, im Rollstuhl sitzt oder einen Rollator nutzt. Barrierefreiheit kann es nur in Bezug auf den Einzelnen geben.
Corinth: Deshalb ist es quasi unmöglich, touristische Angebote zu zertifizieren, wie es das Projekt „Reisen für Alle“ versucht. Das findet keine Akzeptanz, weil beispielsweise Hotels den wirtschaftlichen Nutzen solcher Zertifizierungen nicht sehen. Wie sollen sie es schaffen, alle Gruppen einzubeziehen? Das heißt aber im Umkehrschluss für die Menschen mit Einschränkungen: Sie müssen sich beispielsweise mit dem Hotel befassen, in dem sie Urlaub machen möchten. Wie groß sind die Toiletten, haben die Zimmer ebenerdige Duschen, welche weiteren Angebote gibt es? An manchen Orten stößt Barrierefreiheit auch naturgemäß an ihre Grenzen: Wenn ich etwa in einer Altstadt unterwegs bin, muss ich mit einem holprigen Kopfsteinpflaster rechnen.
Was ist denn die Alternative zu Signets oder Zertifikaten?
Corinth: Teilhabe wird durch den positiven, offenen Umgang mit Menschen mit Behinderungen möglich. In Deutschland müssen wir das in der Begegnung miteinander noch mehr üben. Nur so lässt sich erfahren, was die Menschen wirklich wollen und brauchen. Für Tourismusanbieter gilt: Sie sollten fragen, was Gäste mit Beeinträchtigung benötigen, um unbeschwert reisen zu können. In anderen Ländern, etwa in Italien, Portugal, Israel, in den Niederlanden oder auch in den USA, sind diese Menschen sichtbarer als hierzulande. Die UN-Behindertenkonvention wird dort anders umgesetzt als bei uns, man kann sagen, diese Länder sind behindertenfreundlich. Bei den USA hat das auch mit ihrer Geschichte zu tun, dort leben mehr Menschen, die unter den Folgen von Kriegen leiden, als bei uns. Vielleicht zählen die Menschen mit Adipositas zu denjenigen mit Beeinträchtigungen – die Zahlen besagen nämlich, dass es davon weltweit zehn bis 15 Prozent gibt, in den USA zählte das US Department for Health and Human Services hingegen im Jahr 2020 über 25 Prozent.
Wie kann sich ein Mensch mit Beeinträchtigung auf eine Reise vorbereiten?
Kempf: Am besten schaut er darauf, welches Verständnis für die Bedürfnisse von Einwohnern mit Behinderung in dem Land herrscht, in das er reisen möchte. Nehmen wir das Bodenleitsystem für Menschen mit Sehbeeinträchtigung: Es wurde in Japan erfunden, daher kann man davon ausgehen, dass dort eine besondere Sensibilität für das Thema herrscht.
Wir sollten uns dabei vor Augen halten, dass wir alle mit Barrieren konfrontiert sind, wenn wir unterwegs sind: die andere Sprache; eine fremde Kultur oder Mahlzeiten, die wir nicht kennen. Die Auseinandersetzung damit ist Teil unserer Erholung. Es gibt Untersuchungen, dass Reisen als Verlängerung von Zeit empfunden wird: Wir erleben die Welt dabei wieder neu, wie ein Kind. Apropos Kind: Auch Eltern, die mit ihrem Nachwuchs Urlaub machen, der einen Kinderwagen braucht, müssen Hürden nehmen — ähnlich wie jemand, der im Rollstuhl sitzt.
Wie sollte sich barrierefreies Reisen in Zukunft entwickeln?
Corinth: Es ist ein Auftrag an die Gesellschaft, sich auf Menschen mit Beeinträchtigungen einzustellen. Denn einerseits werden die 80jährigen in ein paar Jahren die größte Bevölkerungsgruppe bei uns sein. Andererseits lohnt es sich natürlich jetzt bereits, Menschen mit Behinderungen stärker zu berücksichtigen.
Kempf: Passende, möglichst barrierearme Angebote sollten Schritt für Schritt in den Ferienregionen entwickelt werden. Wir haben dazu am Niederrhein ein Projekt betreut – dort gibt es etwa eine Serviceklingel, die dafür sorgt, dass jemandem weitergeholfen wird, der ein Ladenlokal nicht selbst betreten kann.
Das Interview führte Natascha Plankermann, Journalistin, spezialisiert auf Gesundheits- und Medizinthemen.