REHACARE.de sprach mit Mischa Gohlke über das bereits mehrfach ausgezeichnete Pilotprojekt "Musikunterricht für Hörgeschädigte" und über seinen - wie er sagt - radikalen Traum von Inklusion.
Herr Gohlke, wie sind Sie auf die Idee zu Ihrem Projekt "Musikunterricht für Hörgeschädigte" gekommen?
Mischa Gohlke: In Deutschland sind etwa 14 Millionen Menschen hörgeschädigt. Die hohe Zahl wird sicherlich viele überraschen. Leider ist immer noch die Haltung stark verbreitet, dass man aufgrund einer Hörschädigung keine oder nur bedingt Musik machen kann. Dies ist mir erstmals 2009 bei einem Sommercamp für hörgeschädigte und gehörlose Jugendliche so richtig bewusstgeworden. Verbunden mit meinen persönlichen Erfahrungen und meiner Identität als an Taubheit grenzend hörgeschädigter Musiker habe ich 2010 in Kooperation mit der Rock & Pop Schule Kiel das inklusive Pilotprojekt "Musikunterricht für Hörgeschädigte" ins Leben gerufen. Darüber hinaus berate ich bundesweit Musikschulen bezüglich des inklusiven Musikunterrichts und mache zu verschiedensten Themen Workshops für Musiklehrer, Pädagogen, Lehrer, Eltern, Schüler und Studenten.
Viele können sich nur schwer vorstellen, wie Musikunterricht für Menschen mit einer Hörbehinderung funktioniert. Wie genau läuft Ihr Unterricht denn ab?
Gohlke: Musikunterricht für Hörgeschädigte klingt auf dem ersten Blick zwar spektakulär und paradox, es geht aber letztendlich um ganz normalen Musikunterricht, der wirklich allen Menschen zugänglich sein sollte.
Einer der wohl größten Fehler ist, wenn wir hörgeschädigte Menschen die "normalen" Prozesse beim Musizieren und im Leben ausschließlich auf unsere Hörschädigung projizieren und uns damit identifizieren. Wir alle haben unsere Themen und es scheint immer wieder die Frage zu sein, wie wir einen gesunden konstruktiven Umgang mit unseren vermeintlichen Schwächen, Stärken, Frustrationen und Erfolgen finden können. Dabei ist immer wieder eine Herausforderung, die von innen und außen aufgelegten Gedankenmuster zu erkennen, zu hinterfragen und zu transformieren. Mit Leidenschaft, Achtsamkeit und Kontinuität können wir fast alles (er)schaffen. Musik ist ein wunderbarer Spiegel für die eigene Persönlichkeitsentwicklung und die zwischenmenschliche Beziehungsebenen. Dabei können wir alle von- und miteinander lernen.
Ich werde oft gefragt, wie man mit den hörgeschädigten Schülern umgehen soll. Dabei sollte die Frage eher lauten: Wie komme ich mit dem Menschen, der unter anderem hörgeschädigt ist, in Kontakt? Hierbei gibt es keine Patentrezepte und allgemeingültige Methoden. Es kann generell hilfreich sein, zu wissen, dass viele Hörgeschädigte von den Lippen absehen, ein Teppich im Raum den Schall auf angenehme Weise dämpfen kann und nur eine Person zur selben Zeit reden sollte. Entscheidend ist es aber, immer wieder aufs Neue in eine möglichst wertfreie und ergebnisoffene Beziehungsebene nach innen und außen zu kommen und sich gemeinsam der Vielfalt an Möglichkeiten hinzugeben. Und so das Leben aktiv zu gestalten.
Spannend finde ich die wiederkehrende Erfahrung, dass ich in manchen Momenten fast alles verstehen kann, in anderen Momenten wiederum so gut wie gar nichts. Da kommt man automatisch zu der Fragestellung, wie Wahrnehmungen und Realitäten überhaupt entstehen und kreiert werden. Und wie unser Gehirn generell so arbeitet – oder auch nicht?
Unsere Wahrnehmungen und Empfindungen sind multisensorisch und wir erleben Sprache und Musik auf verschiedensten Ebenen zugleich: Auge, Gehör, Emotion, Körpergefühl, Verstand, Intuition, metaphysische Prozesse und viele mehr. Alles bedingt einander und läuft parallel.
Die Auseinandersetzung mit einer vermeintlichen Sinnes-Beeinträchtigung – wie zum Beispiel eine Hörschädigung – resultiert also in einen "ganzheitlichen multisensorischen Musikunterricht", der alle Sinne, Wahrnehmungen und Empfindungen mit einbezieht und alle Menschen anspricht.