"Umfassende Barrierefreiheit würde uns allen nutzen"
Nachgefragt bei Hedwig Reiffs, Selbsthilfe Körperbehinderter Bonn e.V.
"Umfassende Barrierefreiheit würde uns allen nutzen"
Wie ist das eigentlich, wenn man seinen Alltag im Rollstuhl bewältigt? Und wie wirken sich altersbedingte Einschränkungen auf die Beweglichkeit aus? Diese Erfahrung können Interessierte mithilfe eines Rollstuhl-Erlebnisparcours und eines Alters-Simulations-Anzuges machen. REHACARE.de sprach mit Hedwig Reiffs von der Selbsthilfe Körperbehinderter Bonn e.V., die so einen Erlebnistag kürzlich in Bonn begleitete.
Anlässlich des UNESCO-Gipfels "Inklusion – Die Zukunft der Bildung" im März 2014, hatte die Stadt Bonn unter dem Motto "Es ist normal, verschieden zu sein" die Bonner Bürger zu einer Fotoaktion aufgerufen. Um den "Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung" am 03.12.2014 wurde die Ausstellung der Stadt Bonn im Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) mit einem vielfältigen Rahmenprogramm präsentiert. Am 09. Dezember luden ein Erfahrungsparcours und der Alters-Simulations-Anzug – bereitgestellt von der Hör- und Behindertenseelsorge des Erzbistums Köln (Bonn) – zum Perspektivwechsel ein.
Auch als Fußgänger einmal einen Rollstuhl ausprobieren und beispielsweise eine Rampe hoch oder im Slalom fahren: Frau Reiffs, wie reagieren die Menschen auf diesen Erlebnisparcours?
Hedwig Reiffs: Hier sind heute etwa 200 Menschen vorbei gekommen, grob geschätzt haben sich davon aber nur 70 überhaupt die Zeit genommen, sich genauer zu informieren. Die Herren kamen vor allem in Gruppen vorbei – und entweder schauten sie sofort wieder weg oder sie waren gesprächsbereit. Doch leider war nur ein kleiner Bruchteil der Männer dazu bereit, freiwillig den Rollstuhlparcours auszuprobieren. Die Frauen waren da deutlich offener. Es waren zum Beispiel zwei Mütter dabei, deren Kinder (ohne Behinderung) eine inklusive Schule besuchen. Für diese, aber auch viele andere Frauen war der Perspektivwechsel viel selbstverständlicher und wertvoll.
Welche Einblicke können durch diesen Wechsel gewonnen werden?
Reiffs: Wenn auf der Straße ein Rollstuhlfahrer an uns vorbeifährt, sieht das immer so einfach aus. Im Rollstuhlparcours merkt man aber schnell, dass es durchaus anstrengend ist, sich auf diese Weise fortzubewegen. Natürlich wird es mit der Zeit einfacher. Auch frischgebackene Rollstuhlfahrer brauchen anfangs eine Weile, bis sie mit dem Rollstuhl richtig gut zurechtkommen. Mobilität muss neu erarbeitet werden, die Selbstverständlichkeit dieser Art der Fortbewegung ist zunächst nicht vorhanden. Deswegen ist ein sogenanntes Rollstuhlmobilitätstraining meiner Meinung nach auch sehr wichtig. Leider wird dieses nicht immer von der Krankenkasse bezahlt. Dabei ist dieses Training sehr wichtig, um sich eigenen eventuell vorhandenen Ängsten zu stellen und das nötige Selbstvertrauen für den Alltag zu entwickeln.
Neben dem Rollstuhlparcours bieten Sie auch die Möglichkeit an, sich in ältere Menschen hineinzuversetzen. Was bewirkt der Alters-Simulations-Anzug?
Reiffs: Mit dem Alters-Simulations-Anzug verdeutlichen wir die körperlichen Einschränkungen, die das Alter so mit sich bringt. Gewichte an den Armen, Beinen und am Oberkörper zeigen, wie viel mehr Kraftaufwand vielleicht schon kleinere Aktivitäten wie beispielsweise das Treppensteigen erfordern. Die verstärkten Handschuhe schränken die Nutzung der Hände ein, was sich etwa beim Schreiben oder beim Aufheben eines Stiftes bemerkbar macht. Und die Brille zeigt deutlich, wie sehr sich ein schlechteres Sehvermögen auf alltägliche Beschäftigungen wie das Lesen auswirkt. Damit werden aber auch die Barrieren veranschaulicht, die uns im Alltag immer wieder begegnen: etwa kontrastarme Schrift oder unübersichtliche Anordnungen von Inhalten in Zeitungen oder Prospekten. Dabei würde eine umfassende Barrierefreiheit uns allen nutzen.
Was bedeutet für Sie Inklusion?
Reiffs: Inklusion ist zunächst nur ein Wort, das man allerdings mit Leben füllen muss. Inklusion setzt eine gewisse innere Haltung voraus: eine Offenheit jedem Menschen gegenüber – egal ob er eine sichtbare oder vielleicht unsichtbare Behinderung hat.
In Richtung Inklusion machen wir allerdings erst kleine Schritte. Solche Erfahrungstage wie heute sind ja eher wie ein Schauspiel, sie finden sozusagen auf einer Bühne statt. Aber wenn wir Inklusion gesellschaftlich verwirklichen wollen, muss es auch hinter dem Vorhang weitergehen, abseits der Bühne. Bis inklusives Denken allerdings wirklich in unseren Köpfen angekommen ist, wird es noch eine Weile dauern. Das ist eine Generationenaufgabe. Nichtsdestotrotz gilt: Wir dürfen nicht nur reden, sondern müssen auch einfach mal machen!
Egal ob Prominenter, Experte oder Betroffener – in unserer Nachgefragt-Rubrik kommen sie alle zu Wort. Und sie haben eine Menge interessanter Dinge zu erzählen. REHACARE.de spricht mit ihnen über aktuelle Themen aus Politik, Freizeit und Lifestyle.