Wie steht Deutschland im Bereich digitaler Barrierefreiheit im internationalen Vergleich dar?
Nebe: Hier haben wir tatsächlich noch eine Menge aufzuholen. Im gesamten Feld der Digitalisierung gibt es für uns noch viel Nachholbedarf. Bei der digitalen Barrierefreiheit befinden wir uns stabil im Mittelfeld. Aber wir sind eben nicht, was wir glauben zu sein: Vorreiter.
Prof. Zimmermann: Meiner Meinung nach haben wir zwar punktuell einige Dinge erreicht, aber insgesamt ist das viel zu wenig. Wir sehen Menschen mit Behinderung sehr selten im öffentlichen Raum und wenn, dann sind es die paar oberen Prozent, die sich trauen und eine höhere Bildung erhalten haben. Alle anderen, die nicht generell dümmer sind, sondern schlicht und ergreifend nicht das Glück hatten, eine solche Ausbildung zu genießen, sieht man nur sehr selten im beruflichen Kontext. Ein Beispiel: Ich hatte zwei Mitarbeiter mit Behinderung, die es nach einer Zeit auf Spezialschulen auf eine Regelschule geschafft haben, wo sie beide aufgeblüht sind. Sie sind dann bei mir Doktoranden geworden.
Unsere Schwächen werden vor allem dann deutlich, wenn man sich die Vorreiter in Sachen Barrierefreiheit anschaut. Da wären einmal die nordischen Länder, dann die USA oder England. Die Universität Southampton beispielsweise hat eine Abteilung von insgesamt 30 Mitarbeiter*innen, die für die Studierenden mit Behinderung da sind, und das bei 50.000 Studierenden. Wir an der Hochschule der Medien in Stuttgart haben circa ein Zehntel der Studierenden, aber überhaupt niemanden, der in vergleichbarer Weise für Barrierefreiheit zuständig ist.
Was würde das Berufsbild eines Professionals für Barrierefreiheit an diesen Problemen ändern?
Nebe: Ich komme aus einem Wirtschaftsunternehmen. Wir haben zwar eine große Abteilung, die sich mit dem Themengebiet "Barrierefreiheit bei digitalen Anwendungen" beschäftigt, aber wir haben einfach das Problem, geeignete Mitarbeiter*innen zu finden. In der Ausbildung oder dem Studium wird dieser Themenbereich nicht gelehrt. Deshalb haben wir das Problem eines sehr langen Onboarding-Prozesses, in dem die eingestellten Mitarbeiter*innen auf den aktuellen Wissensstand gebracht werden.
Prof. Zimmermann: An der Hochschule merke ich, dass oft noch ein Bewusstsein für die Relevanz dieses Arbeitsfeldes fehlt. Viele meiner Studierenden halten es für eine Nische. Wir müssen das Bewusstsein stärken, dass ein großer Markt da ist. Gerade deshalb freue ich mich auch über diese Partnerschaft mit der Industrie. Es muss ein Bewusstsein dafür entstehen, dass es sich um ein anspruchsvolles Berufsfeld handelt und es sich lohnt, dafür zu investieren.
Was erhoffen Sie sich von ihrer Teilnahme am M-Enabling Forum, parallel zur REHACARE?
Nebe: Wir befinden uns ja gerade in der Gründungsphase. Hier beim M-Enabling Forum haben wir die Möglichkeit, präsent zu sein und zu sagen: "Hey, hier gibt es in Zukunft etwas, das für euch auch interessant sein könnte." Wir haben sehr viele Anfragen bekommen. Wir nutzen das hier, um zu sagen: Wer wird Mitglied im IAAP-DACH. Denn je mehr mitmachen und das auch tragen, umso besser und umso schneller kommen wir voran.
Prof. Zimmermann: Ich habe wirklich die Hoffnung, dass wir hier eine deutschsprachige Community für Barrierefreiheit etablieren können. Ich erlebe das in anderen Ländern, wo es bereits solche Communities gibt. Wir in Deutschland haben eher die Tendenz, dass man für sich und manchmal auch gegeneinander arbeitet. Durch das M-Enabling Forum und das IAAP DACH erhoffe ich mir, dass der Gedanke der Zusammenarbeit hier zunehmend wächst.