Seit unserem letzten Gespräch sind zwei Jahre vergangen. Sie haben damals beschrieben, wie bereits nach zwei Monaten Pandemie Auswirkungen auf Kinder mit Behinderung und die Hilfsmittelbranche spürbar wurden. Wie schätzen Sie die Situation in der Kinder-Hilfsmittel-Versorgung aktuell ein?
Christiana Hennemann: Die Pandemie hat die gesamte finanzielle Situation der Krankenkassen massiv verschlechtert. Es sind große Löcher entstanden und gerade eben wird ja von Beitragserhöhung bis Steuerfinanzierung alles Mögliche zur auskömmlichen Finanzierung des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung heiß diskutiert. Da ist so ein kleiner Bereich wie die Kinderversorgung mit Hilfsmitteln und Therapien einerseits nur ein Tropfen im großen "Fass der Kosten". Andererseits ist die Hilfsmittelversorgung die einzige echte Stellschraube in der Eigenverantwortung der Krankenkassen.
Krankenhaus und Arzneimittel machen den Löwenanteil aus und das ist alles fest verhandelt, da gibt es keinen Spielraum. Entsprechend rabiat empfinden wir und zum Beispiel auch die Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ), die Hilfsmittelversorgungen bei Kindern verordnen und begleiten, die derzeitige Ablehnungspraxis der Kassen. In komplexen Versorgungssituationen – d. h. die Kinder sind schwerst- und mehrfach eingeschränkt und haben eine hohen, sich durch Wachstum beständig verändernden Hilfsmittelbedarf – wird nach unserer Beobachtung eigentlich von vielen Kassen erst einmal fast alles abgelehnt.
Die meisten Eltern gehen in Widerspruch, alle Beteiligten müssen zusätzliche Argumentationen herbeibringen. Spätestens dann wird der Medizinische Dienst eingeschaltet. Der entscheidet in fast allen Fällen aufgrund der Aktenlage, d. h. ohne sich das Kind anzusehen. Die nächste Ablehnung oder ein nicht adäquater Umversorgungsvorschlag folgen, erneute Widersprüche und am Ende bekommen die Kinder das Hilfsmittel dann doch. Das frisst so viele Kräfte bei den Eltern, sie sind am Ende und erschöpft, es belastet die Geschwister und bindet Zeit von Ärzt*innen und Therapeut*innen für Begründungen, die sie lieber und besser "am Kind" verbracht hätten.
Für die jungen Menschen schließen sich unter Umständen unwiederbringlich Entwicklungsfenster und sie werden lebenslang zusätzlich beeinträchtigt. Deshalb haben wir gemeinsam mit einer Mutter, einigen Ärzt*innen und einer Angehörigenvertretung eine Petition losgetreten und begleitet, die über 55.000 Stimmen eingebracht hat und nun seit einem Jahr dem Petitionsausschuss des Bundestags vorliegt.