Studie zum Einfluss der Corona-Krise auf Familien von Kindern mit Behinderung
Nachgefragt bei Dorothea Kugelmeier (Fraunhofer FIT) und bei Dr. Raimund Schmolze-Krahn (Inclusion Technology Lab)
25.06.2020
Wie ergeht es Familien mit behinderten Kindern während der Corona-Pandemie? Diese Frage war vor Kurzem Inhalt einer Online-Umfrage. Innerhalb von nur knapp zwei Wochen beteiligten sich über 1.600 Menschen an der Befragung. Was die Ergebnisse über den gesellschaftlichen Ist-Zustand in Sachen Teilhabe und Inklusion aussagen? Wir haben nachgefragt bei Dorothea Kugelmeier vom Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik FIT und bei Dr. Raimund Schmolze-Krahn vom Inclusion Technology Lab, die die Studie ins Leben gerufen haben.
Dorothea Kugelmeier und Dr. Raimund Schmolze Krahn
Sie haben in Ihrer Studie untersucht, wie Familien mit behinderten Kindern derzeit die Corona-Krise erleben. Wie lassen sich die zentralen Ergebnisse der Umfrage zusammenfassen?
Dorothea Kugelmeier: Die Studie hat eindrücklich zeigen können, dass sich zahlreiche Eltern behinderter Kinder und Jugendlicher überfordert fühlen. Mit dem plötzlichen Corona-Ausbruch mussten sie neben ihrer Rolle als Eltern und Berufstätige auch alle Aufgaben der Betreuung, Pflege und Therapie übernehmen. In der anhaltenden Ausnahmesituation fühlen sich viele der betroffenen Eltern vollständig allein gelassen – es mangelt eindeutig an Unterstützungsangeboten. Erschwerend kommt hinzu, dass auch die Kinder unter den Folgen des Lockdowns leiden. Sie belastet insbesondere der reduzierte Kontakt zu Gleichaltrigen und den vertrauten Bezugspersonen. Bei manchen Kindern, so zeigen die Ergebnisse, wirken sich die Corona-bedingten Schließungen sogar negativ auf die physische und psychische Entwicklung aus. So berichten mehrere Eltern von Entwicklungs- und Therapie-Rückschritten. Mit einer derart deutlichen Befundlage hatten wir nicht gerechnet.
Inwiefern hat sich die Situation auf die Nutzung von digitalen Medien innerhalb der Familien ausgewirkt?
Dr. Raimund Schmolze-Krahn: Die Nutzung digitaler Medien hat aus Sicht der Eltern bei der Mehrheit der Kinder und Jugendlichen deutlich zugenommen. Hauptsächlich wurden die Geräte zum Zeitvertreib eingesetzt, aber auch, weil über sie das Home Schooling adressiert wurde. Die digitalen Lernangebote des Home Schoolings wurden von den Eltern sehr unterschiedlich bewertet. Ein Teil stufte die Angebote als ungeeignet ein, um damit Entwicklungs- und Lernfortschritte bei ihren Kindern zu erreichen. Andere Eltern berichten jedoch, dass diese Art des Lernens besonders hilfreich gewesen sei. Hier besteht ein enger Zusammenhang zur Art und Schwere der Behinderung. Der Wunsch nach mehr Unterstützung wird auch hier geäußert: Viele halten die Hilfe durch geschulte Fachkräfte bei der Nutzung elektronischer Geräte für sinnvoll.
Ausgrenzung statt Teilhabe: Familien mit behinderten Kindern fordern in der Corona-Krise deutlich mehr Unterstützung.
Welche Konsequenzen müssten also aufgrund der Umfrage-Ergebnisse gezogen werden?
Kugelmeier: Wie bereits erwähnt, benötigen die Familien deutlich mehr Unterstützung bei der Betreuung und Pflege ihrer Kinder. Gleichzeitig wünschen sich viele betroffene Eltern mehr digitale Lernangebote und fachliche Ansprechpartner. Sie wollen mit den vielseitigen Herausforderungen und Belastungen nicht allein gelassen werden. Dies gilt längst nicht nur für die Corona-Krise, sondern auch darüber hinaus.
Als Konsequenz dieser Kurz-Umfrage bereiten wir zurzeit eine größere Umfrage vor, die auch länger verfügbar sein soll. Im Mittelpunkt steht dann die Frage, wie der Staat und die Gesellschaft konkret helfen können und sollen. Hier waren die Ergebnisse der Kurz-Umfrage indikativ, aber nicht eindeutig.
Was bedeutet für Sie Inklusion?
Dr. Schmolze-Krahn: Inklusion bedeutet für uns die bedingungslose und vollumfängliche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Das bedeutet auch, dass unsere Gesellschaft das möglich machen muss. Und dass sie das selbstverständlich möglich macht. Dass nicht jeder Schritt in Richtung Teilhabe mühsam erkämpft werden muss. Die Corona-Krise hat ein Brennglas auf den gesellschaftlichen Ist-Zustand geworfen und dabei leider gezeigt, dass statt Teilhabe Ausgrenzung erfolgt. Eine Teilnehmerin an unserer Umfrage fasste das in folgende Worte: "Mich belastet das Gefühl, dass Menschen mit Behinderung noch weniger gesehen werden als je zuvor."