Funktionalität trifft Ästhetik: Warum das Design von Hilfsmitteln so wichtig ist wie noch nie
Funktionalität trifft Ästhetik: Warum das Design von Hilfsmitteln so wichtig ist wie noch nie
Lassen Hilfsmittel sich so gestalten, dass sie ihre Funktion optimal erfüllen und gleichzeitig schön aussehen?
26.08.2024
Während die Funktionalität von Hilfsmitteln besser wird, bleiben beim Design häufig noch Wünsche offen. Dabei legen Menschen mit Behinderung zunehmend Wert darauf, dass ihre Hilfsmittel nicht nur funktional, sondern auch optisch ansprechend sind. Wir haben uns angeschaut, was Hersteller schon heute tun, um dieses Bedürfnis zu stillen und was noch Zukunftsmusik ist. Und wir haben mit Nutzenden von Hilfsmitteln gesprochen.
Hilfsmittel wie Rollstühle, Hörgeräte, Prothesen und Gehhilfen sind aus dem Alltag vieler Menschen mit Behinderung nicht wegzudenken. Sie ermöglichen Mobilität, Unabhängigkeit und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Ihre einwandfreie Funktionalität ist ohne Zweifel essentiell. Doch während es lange Zeit fast ausschließlich um die funktionalen Aspekte dieser Hilfsmittel ging, rückt seit ein paar Jahren auch deren ästhetische Gestaltung in den Fokus.
Viele Nutzende wünschen sich ein ansprechendes Design, das ihre Persönlichkeit unterstreicht und sie nicht stigmatisiert. Eine kleine Umfrage in der REHACARE-Instagram-Community zum diesjährigen International Wheelchair Day verdeutlicht diesen Trend: 68% der Befragten halten die Funktionalität für den wichtigsten Aspekt eines Rollstuhls. Der zweitwichtigste: Optik und Design (15%).
Modernes Hilfsmitteldesign – wichtig für Selbst- und Außenwahrnehmung
Für Laura Gehlhaar ist ein ansprechendes Design von Hilfsmitteln von großer Bedeutung, da Menschen mit Behinderung diese oft über viele Jahre hinweg täglich nutzen.
Auch ein Gespräch mit Laura Gehlhaar zeigt: Gutes und modernes Hilfsmitteldesign ist wichtig – für die Selbst- und Außenwahrnehmung. Die Autorin und Beraterin für Diversität, Gerechtigkeit und Inklusion führt selbst ein Leben im Rollstuhl und weiß genau, was ihr bei einem gefällt: "Für mich muss ein Rollstuhl zeitlos sein. Ich möchte, dass er stylisch ist, aber er muss auch zu meiner Kleidung passen und darf mir als Nutzerin nicht die Show stehlen. Ich will alles dazu tragen können. Für mich persönlich dürfte ein Rollstuhl deshalb auch nie eine knallige Farbe haben", so Laura Gehlhaar. "Ich finde, die Sprünge, die in den letzten Jahren passiert sind in Richtung zeitloses Design, wirklich sehr gut. Denn egal um welches Hilfsmittel es geht, man kann es nicht einfach mal eben wechseln. Es ist immer da und es sieht viele Jahre so aus, wie man es sich ausgesucht hat."
Laura Gehlhaar freut sich gleichzeitig aber auch darüber, dass das Design von Hilfsmitteln in den letzten Jahren vielfältiger geworden ist. Nicht jede Person mag schlichte, schwarze Rollstühle. Viele möchten auffällige Farben und personalisierte Designs, wie ihre Lieblingsband auf dem Speichenschutz. Sie findet es super, dass es diese Wahlmöglichkeiten jetzt gibt, denn ein Rollstuhl sollte auch die Persönlichkeit widerspiegeln können.
"Wenn Menschen mir als behinderte Person guten Geschmack zuschreiben, dann bricht das mit krassen Vorurteilen."
Gutes Design kann laut Laura Gehlhaar auch die gesellschaftliche Wahrnehmung von Rollstühlen verändern. Viele Nicht-Behinderte würden Behinderungen immer noch mit etwas Negativem und Unschönen assoziieren. "Wenn ich dann mit einem schicken Rollstuhl auftauche, dann macht es das Ganze für viele irgendwie zugänglicher. Das klingt jetzt schlimm: Aber wenn Menschen mir als behinderter Person guten Geschmack zuschreiben, dann bricht das mit krassen Vorurteilen. Denn das Vorurteil ist: eine Behinderung oder ein Hilfsmittel ist nie schön", erklärt Laura Gehlhaar. Gutes Design für Hilfsmittel sei auch deshalb extrem wichtig.
Der Tukan Super Light ist ein ultraleichter Rollstuhl, der für Outdoor-Aktivitäten entwickelt wurde.
Pioniere des modernen Hilfsmitteldesigns
Einige Unternehmen haben die Wichtigkeit des Themas in den vergangenen Jahren erkannt und setzen verstärkt auf die Verbindung von Funktionalität und Ästhetik. Ein prominentes Beispiel ist Wolturnus. Der Hersteller hat es sich zur Aufgabe gemacht Rollstühle zu entwickeln, die eine natürliche Erweiterung des Körpers sind. Mit individuell angepassten Rollstühlen will die dänische Brand Nutzenden die größtmögliche Freiheit geben, mit Freunden und Familie am Leben teilzunehmen. Eine Vision, die ankommt. Auf der REHACARE 2023 präsentierte Wolturnus unter anderem den neuen Rollstuhl 'Tukan Super Light'. Die Reaktionen auf das Model, das Eleganz, hohe Funktionalität und Komfort kombiniert: durchweg positiv. Das Vorgängermodell 'Tukan' ist übrigens auch die aktuelle Wahl von Laura Gehlhaar.
Bei Hilfsmitteln legen Menschen zunehmend Wert darauf, diese nach ihrem individuellen Geschmack anpassen zu können.
Zu den weltweit bekanntesten Marken, die die Bedeutung der Verbindung von Design und Funktionalität erkannt haben, gehört MEYRA. Ein Beispiel hierfür ist der Faltrollstuhl NANO X. Er ist platzsparend und kann leicht verstaut werden, wenn er nicht gebraucht wird, so der Hersteller. Das reduzierte Design bietet zudem zahlreiche Anpassungsmöglichkeiten. Mit über 20 Rahmenfarben, farbigen Xtrend-Lenk- und Antriebsrädern, Seitenteilen in Rahmenfarbe oder aus Carbon gibt es viele Optionen, um den Rollstuhl nach persönlichem Geschmack zu gestalten.
Ein weiteres Unternehmen aus Dänemark, das es mit seinen modernen Designs bereits in die internationale Presse geschafft hat: byACRE. Die stylischen Rollatoren des Hilfsmittelherstellers werden für ihren modernen Look und ihr Hochwertigkeit gepriesen. Das Ergebnis einer Brand aus dem medizinischen Bereich, die ihre Kundschaft als Menschen mit Lebenslust sieht – nicht als Patientinnen und Patienten.
Ein Rollstuhl aus dem Drucker? 3D-Druck ermöglicht eine perfekte Anpassung der Maße auf individuelle Bedürfnisse.
Designpreise und 3D-Drucker
Die Bedeutung von Design bei Hilfsmitteln wird in den kommenden Jahren wohl weiter zunehmen. Der Trend hin zu individualisierten, ästhetisch ansprechenden Produkten spiegelt sich auch in der wachsenden Zahl an Designwettbewerben und -auszeichnungen wider, die speziell für Hilfsmittel vergeben werden. So gewann das deutsche Start-up Parafree2023 zum Beispiel den renommierten iF Design Award in der Kategorie Healthcare für ihren modularen Rollstuhl. Anerkennungen wie diese zeigen, dass ästhetische Aspekte zunehmend als integraler Bestandteil von Funktionalität betrachtet werden.
Zudem können zukünftig neue Technologien wie der 3D-Druck und smarte Materialien weitere Möglichkeiten eröffnen, um Hilfsmittel ansprechend zu gestalten. Die Personalisierung von Hilfsmitteln könnte dadurch weiter voranschreiten und es den Nutzenden ermöglichen, ihre individuellen Bedürfnisse und ihren persönlichen Stil noch stärker auszudrücken. Ein Projekt, das diesen Weg einschlagen hat, ist 'GO' von LAYER– ein maßgefertigter, 3D-gedruckter Rollstuhl, der für die individuellen Bedürfnisse einer Vielzahl von Behinderungen und Lebensstile entwickelt wurde. Erste Fotos, die auch aus einer NIKE-Kampagne stammen könnten, begeisterten bereits vor ein paar Jahren die Öffentlichkeit. Zu kaufen gibt es den 3D-Druck-Rollstuhl bisher noch nicht.
Zu einem exzellenten Design gehört auch die Wahl des Materials. Paul de Livron entwickelt Rollstühle aus Holz.
Zukunftsvisionen: Hilfsmittel aus Holz
Doch es gibt auch spannende Ansätze, die sich auf ein altbewährtes Material konzentrieren: Holz. So sind Rollstühle von Apolloaus Frankreich zum Beispiel aus Holz gefertigt und so beeindruckend, dass Designer Paul de Livron zurzeit einen besonderen Rollstuhl aus Holz für den Papst anfertigt. "Die Holzrollstühle, die ich herstelle, sind aber noch nicht auf dem Markt. Sie sind Prototypen, mit denen ich Dinge ausprobiere und mehr und mehr Know-how aufbaue. Außerdem kann ich nicht der einzige Hersteller von Holzrollstühlen bleiben und die Nachfrage in der ganzen Welt befriedigen. Ich muss Partner finden, die ähnliche Rollstühle wie meine in ihren Ländern entwickeln, produzieren und vermarkten. Das ist meine Hoffnung", so Paul de Livron.
Auch der dänische Designer Anker Bak widmet sich unter anderem Holz als Material, um ästhetische Hilfsmittel wie Rollatoren oder Gehhilfen herzustellen. Diese sind aktuell noch nicht im Handel erhältlich, befinden sich aber in der Entwicklungsphase und sollen in naher Zukunft zu kaufen sein. Dafür arbeitet Anker Bak mit verschiedenen Möbelherstellern zusammen. "Ich sehe meine Aufgabe als Designer darin, der Welt neue Möglichkeiten und Ideen zu zeigen und diese dann von Herstellern umsetzen zu lassen", so Anker Bak. "Meine Designs sind Ideen für eine menschenwürdigere Zukunft."
Gutes Hilfsmitteldesign: Kein Luxus, sondern ein Beitrag zur Inklusion
Die steigende Nachfrage nach ästhetisch ansprechenden Hilfsmitteln ist ein Ausdruck des wachsenden Selbstbewusstseins und der gestiegenen Ansprüche vieler Menschen mit Behinderung. Dies ist kein Wunsch nach Luxus, sondern nach Inklusion und Teilhabe am öffentlichen Leben. Hersteller und Designer, die diese Bedürfnisse erkennen und in ihre Produktentwicklung einfließen lassen, leisten einen wichtigen Beitrag. Sie zeigen, dass Funktionalität und Ästhetik kein Widerspruch sind, sondern sich vielmehr ergänzen und verstärken können