Ungenutztes Potential? Mode für Menschen mit Behinderung
Ungenutztes Potential? Mode für Menschen mit Behinderung
03.03.2020
Inklusives Design, Adaptive Fashion – Bezeichnungen gibt es im deutsch- und englischsprachigen Raum so einige. Doch was zeichnet (gute) Mode für Menschen mit Behinderung eigentlich aus? Und ist Kleidung für beispielsweise Rollstuhlfahrer*innen und kleinwüchsige Menschen wirklich noch immer eine ungenutzte Marktlücke? REHACARE.de hat sich in der Mode-Industrie einmal umgesehen.
Spezielle Stoffe und deren entsprechende Verarbeitung an beispielsweise Jackenärmeln können für Menschen, die einen Rollstuhl nutzen, einen großen Unterschied im alltäglichen Handling machen.
Glitzernd und für alle gut sichtbar – die Italienerin Giusy Versace sorgte bei der Berliner Fashion Week Anfang des Jahres für einen Hingucker als sie mit ihren zwei glitzernden Beinprothesen über den Laufsteg lief. Dafür erntete sie zwar viel Applaus, doch die entstandene (mediale) Aufmerksamkeit zeigt auch, dass vor allem in der oft perfekt erscheinenden Modewelt, Menschen mit Behinderung meist nicht vorkommen und somit auch nicht mitgedacht werden.
Kleidung: funktionell und modisch, bitte!
Das beweist ebenfalls ein aktuelles Beispiel aus den USA: Dort designte in der aktuellen Staffel von "Project Runway" eine der Kandidat*innen ein Kleid für die Paralympionikin Tatyana McFadden. Denn die Sportlerin habe große Probleme, passende Kleider für sich zu finden – aufgrund ihres Körperbaus und des Rollstuhls, den sie nutzt. Dass sie sich zusätzlich das gewisse Extra für ihr Kleid wünschte – nämlich eine Schleppe – schien der Kandidatin Nancy Volpe-Beringer nichts auszumachen. Sie entwarf und nähte ihr innerhalb eines Tages genau solch ein Kleid: elegant, mit Schleppe und dank Klettverschlüssen leicht selbst an- und auszuziehen. A perfect match – wie die Amerikaner sagen würden.
McFadden selbst schwärmte nicht nur in der Sendung, sondern auch auf ihrem Twitter-Account von dem entworfenen Kleid und betonte, wie wichtig ihr Mode sei, um sich selbst auszudrücken. Und dass Mode vor allem für jeden Menschen zugänglich sein sollte. Und das sieht nicht nur die Sportlerin so: Auf Social-Media-Plattformen wie Instagram finden sich zahlreiche Fotos von Menschen mit Behinderung, die unter Hashtags wie #WheelchairFashion, #DisabilityFashion oder #WheelchairStyle ihre Outfits mit der ganzen Welt teilen. Wie viele andere Instagramer*innen eben auch. Gelebte Vielfalt. Doch viele berichten auch von ihren Problemen, die sie dabei haben, geeignete Kleidung für sich zu finden. Es beginnt bei baulichen Barrieren in den Shops und Boutiquen und endet bei Kleidungsstücken, die überhaupt nicht auf die Bedürfnisse etwa von Rollstuhlfahrer*innen oder kleinwüchsigen Menschen ausgerichtet sind. Was wiederum dazu führt, dass viele vermehrt online kaufen und Rücksendungen einplanen oder sich direkt an Firmen halten, die sich auf angepasste Mode spezialisiert haben.
Im Online-Shop von Samanta Bullock (links) werden Menschen fündig, die Spaß an vielfältiger Mode haben. Wie beispielsweise Hosen, die sowohl im Sitzen an Sabine Klemens (rechts) als auch Stehen an Kathleen Humberstone (Mitte) gut aussehen.
Denn diese gibt es durchaus, wobei sich viele eher auf Hosen oder generell Funktionsbekleidung beschränken. "Es gibt quasi keine Haute Couture oder High Fashion für Menschen mit Behinderung", sagt Sabine Klemens. "Und die Frage, wie es sein kann, dass es mehr (Designer)Mode für Haustiere gibt als für Menschen mit Behinderung, kursiert auch nicht zu Unrecht auf Instagram." Das Rollstuhlmodel legt genau wie Fußgänger*innen nämlich Wert auf modische Kleidung, die sowohl ihrer Persönlichkeit als auch dem jeweiligen Anlass entspricht. Doch das ist nicht immer so einfach.
Denn übliche Hosen und Kleider ziehen sich in Sitzposition oft hoch oder lassen sich nicht gut öffnen und anziehen. "Wegen meiner eingeschränkten Arm- und Handkraft achte ich daher beispielsweise auf Klett- oder Magnetverschlüsse oder griffige Zipper, damit ich Hosen trotzdem selbstständig öffnen kann." Und damit die Jackenärmel nicht ständig in Kontakt mit den Rollstuhlrädern kommen, greift sie gerne zu Jacken, die kürzere oder enge Ärmel haben. Worauf die modebewusste Rollstuhlfahrerin sonst noch achtet und was sie vor allem mit den Online-Shops Samanta Bullock und Kinetic Balance verbindet, erfahren Sie in unserem Beitrag Mode für Rollstuhlfahrende – funktionell, komfortabel, vielfältig.
Tommy Hilfiger trifft AUF AUGENHOEHE
Wenn die Mode-Industrie generell inklusiver denken und designen würde, hätten auch Menschen mit verschiedenen Behinderungen eine deutlich größere Auswahl. Und wie so oft ist es auch in der Mode so, dass Barrierefreiheit am Ende der gesamten Gesellschaft nützt. Denn wenn Kleidung sowohl Funktionalität als auch Komfort und Stil vereint, profitieren nicht nur Menschen mit körperlichen Einschränkungen davon. Auf der REHACARE 2019 kamen beispielsweise die Einhand-Schnürsenkel von QuickShoeLace insgesamt gut an – worin manche Menschen ein wirklich hilfreiches Hilfsmittel für den Alltag sahen, sahen andere einfach nur die Zeitersparnis in Kombination mit einem ansprechenden Look.
Dass aber nicht nur meist eher unbekannte Firmen oder Labels verstanden haben, dass Mode für alle Menschen zugänglich sein sollte, zeigt das Beispiel des US-amerikanischen Designers Tommy Hilfiger. Bereits im Frühjahr 2016 überraschte er die Fashion-Industrie mit seiner "Adaptive Collection" für Kinder mit Behinderung, die in Zusammenarbeit mit der gemeinnützigen Organisation "Runway of Dreams" entstand. Ein Jahr später wurde die Kollektion dann mit Kleidung für Erwachsene erweitert. "Jedes Kleidungsstück ist mit der gleichen Qualität, den gleichen Materialien und dem gleichen Design wie die Artikel unserer anderen Kollektionen gefertigt. Allerdings haben sie weitere Features, die sowohl funktionell als auch diskret sind. Sie erleichtern Kindern und Erwachsenen mit Behinderung das Anziehen und schenken ihnen mehr Unabhängigkeit und ein gutes Gefühl", wird Hilfiger auf der Kollektions-Webseite zitiert. Diese Features umfassen unter anderem Einhand-Reißverschlüsse, magnetische Knöpfe, weite Beinöffnungen für Beinschienen oder Orthesen, Oberteile mit größeren Rückenöffnungen sowie Hosen mit niedrigem vorderem Bund und einem höher geschnittenen hinterem Bund – für die optimale Passform im Sitzen.
Hilfigers Team arbeitet laut Webseite außerdem regelmäßig daran, die Kollektion zu verbessern und optimal an den Alltag der Zielgruppe anzupassen. Generell scheint es zur Firmenpolitik zu gehören, immer wieder mal über den Tellerrand hinaus zu gucken – etwa beim Ausrichten der Tommy Hilfiger Social Innovation Challenge. Die globale Initiative zielt darauf ab, Unternehmen in der Gründungs- und Aufbauphase zu unterstützen, die Ansätze verfolgen, um einen positiven sozialen Einfluss auf die Wertschöpfungskette der Mode-Industrie auszuüben. Zu gewinnen gibt es unter anderem ein einjähriges Mentoring sowie ein Stipendium.
Kleinwüchsige Menschen wie Mick Mehnert (zweiter von rechts) können mit der Mode von AUF AUGENHOEHE nun endlich auch Kleidung kaufen, die dank der entwickelten Konfektionsgröße direkt passt.
Auch Sema Gedik hatte bei der Ausschreibung 2018/2019 mitgemacht – und sie hat gewonnen! Mit ihrem noch jungen Label AUF AUGENHOEHE sorgt Gedik dafür, dass kleinwüchsige Menschen passende Kleidung finden können – und hat mit ihrem Team erstmalig einheitliche Konfektionsgrößen für kleinwüchsige Menschen entwickelt.
Mick Mehnert modelt von Anfang an für AUF AUGENHOEHE (AAH) und ist außerdem überzeugter Kunde: "Besonders liebe ich die Hemden und Hosen. Vorher konnte ich einfach keine perfekt passenden und gut sitzenden Hemden und Hosen finden. Ich liebe außerdem das Logo-T-Shirt. Auf mein AAH T-Shirt werde ich regelmäßig angesprochen. Das macht mir Spaß und ich fühle mich cool und modisch. Das coole an dem T-Shirt ist, dass jede*r das T-Shirt kaufen kann, ganz unabhängig von der Körperproportion." Sonst musste er seine Kleidung immer kürzen lassen und dann trotzdem in Kauf nehmen, dass sie dennoch schlecht sitzt. Mit der Mode von Sema Gedik hat sich dies nun ein stückweit geändert. Inwiefern ihre ready-to-wear-Mode auch zu mehr Inklusion und Teilhabe beitragen soll, erzählt sie im Interview auf REHACARE.de.
Und Mick Mehnert hat noch ein Anliegen an die Branche: "Ich wünsche mir, dass die Modewelt aufhört, nur eine Art von Körper zu bewerben. Das ist langweilig und unrealistisch. Es macht doch viel mehr Spaß, die Schönheit der Welt in all ihrer Vielfalt darzustellen."
Linkliste: Mode für Menschen mit Behinderung
Welche Firmen gibt es, die Mode für Menschen mit Behinderung herstellen? Ein kleiner Überblick: