Technik, die bewegt – Prothetik zwischen Hightech und Alltag

Was haben eine geschnitzte Zehe aus dem alten Ägypten, eine hölzerne Kriegsprothese aus dem Mittelalter und ein KI-gesteuerter Prothesenfuß aus dem 21. Jahrhundert gemeinsam? Sie alle erzählen davon, wie sehr der Mensch seit jeher danach strebt, sich selbstbestimmt fortzubewegen – mit Hilfsmitteln, die Körper und Technik miteinander verbinden.

Heute ermöglichen intelligente Sensoren, neurogesteuerte Schnittstellen und individuell gefertigte Hightech-Komponenten Hilfsmittel, die sich immer stärker an natürliche Bewegungsabläufe anpassen. Was einst starr und funktional war, wird heute smart, anpassungsfähig und intuitiv nutzbar – und öffnet neue Räume für Mobilität, Teilhabe und Alltagssouveränität.

Ob KI, Sensortechnik oder individualisierte Fertigung: Moderne Prothesen und Orthesen kombinieren medizinisches Know-how mit Hightech-Innovation. Diese Entwicklungen zeigen, wie fortschrittlich und alltagstauglich die Orthopädietechnik heute ist – und wie eng Technik und Teilhabe zusammenspielen.

Ein Steuerungssystem für Prothesen, das Nervensignale direkt aus dem Körper ausliest – für eine intuitive, fast gedankenbasierte Bedienung. Das US-Start-up Phantom Neuro entwickelt genau das. Ottobock ist als Lead-Investor an Bord und ergänzt sein Portfolio in diesem Bereich aktuell um den neuen Taleo Adapt – einen hydraulischen Prothesenfuß mit Knöchelgelenk, der sich an unebenes Gelände anpasst und das Gangbild verbessert.

Sensoren und Algorithmen, die Muskelaktivitäten analysieren und damit die Passform und Funktion von Prothesen verbessern – daran arbeiten die Start-ups MuscleMetrix und BionicSkins, ebenfalls mit Unterstützung von Ottobock. Der Anspruch: Ein dynamischer Schaft, der sich dem Alltag anpasst. Für jüngere Nutzende erweitert Ottobock diesen Ansatz durch neue kindgerechte Lösungen wie das movido-Kniegelenk und den Maverick junior –leicht, robust und speziell für Abenteuer gemacht.

Die flexible Prothese SoftFoot Pro imitiert das natürliche Abrollen des menschlichen Fußes – ganz ohne Motor, nur durch clevere Konstruktion. Entwickelt wurde sie vom Istituto Italiano di Tecnologia und der Universität Pisa. Das Besondere: Der Prothesenfuß ist auch für humanoide Roboter geeignet und zeigt, wie konsequent Technik von der Natur lernen kann.

Mit der exomotion® hand one bietet das Unternehmen HKK Bionics eine motorisierte Orthese für gelähmte Hände. Sie wird individuell gefertigt, ist intuitiv steuerbar und unterstützt Menschen mit neurologischen Einschränkungen beim Greifen und Halten – vom Wasserglas bis zur Zahnbürste.

Neue Schnittstellen sollen es ermöglichen, mit Prothesen nicht nur zu greifen, sondern auch zu fühlen. Forschende in Wien, Kalifornien und Kaiserslautern arbeiten an Lösungen, bei denen sensorisches Feedback, neuronale Dekodierung und smarte Steuerung kombiniert werden. Projekte wie HelpMeWalk zeigen zudem, wie digitale Versorgungsprozesse Therapien künftig begleiten und verbessern können.

Was früher Vision war, ist heute vielfach Realität – und bringt smarte Hilfsmittel in den Alltag von Menschen auf der ganzen Welt.

Technologische Innovationen in der Prothetik und Orthetik entfalten ihren wahren Wert erst im Alltag der Menschen, die sie nutzen. Zwei Beispiele zeigen, wie individuell angepasste Hilfsmittel dabei unterstützen können, Selbstbestimmung und Teilhabe zu leben – ganz unabhängig von Alter, Herkunft oder Versorgungsort.

Im März 2023 verlor Abdoulie Minteh aus Gambia nach einem Unfall sein linkes Bein oberhalb des Knies. Eine hochwertige Prothesenversorgung war vor Ort kaum möglich, über familiäre Kontakte kam der heute 39-Jährige nach Langen in Hessen. Dort erhielt er im Sanitätshaus Optimus eine individuell angepasste Prothese und trainierte im Therapiezentrum Neuron den sicheren Umgang damit.

Der Familienvater, der beim West African Examinations Council arbeitet, blieb während der gesamten Reha-Phase in engem Kontakt zu seiner Familie in Gambia. Sein Arbeitgeber übernahm die Behandlungskosten – eine Unterstützung, die ihm den Zugang zu moderner Orthopädietechnik überhaupt erst ermöglichte.

Nach acht Wochen konnte er sich wieder ohne Gehhilfe fortbewegen. "Diese Prothese gibt mir ein Stück Unabhängigkeit zurück", sagt Minteh. "Es ist ein tolles Gefühl, wieder laufen zu können. Und ich bin sicher, dass ich in meiner Heimat ein Stück meines alten Lebens zurückbekomme."

Mit acht Jahren wurde bei Claire Horsbrugh ein Tumor in der linken Hirnhälfte festgestellt. In der Folge entwickelte sie eine Epilepsie und eine Halbseitenlähmung, die ihren Alltag zunehmend prägte. Mithilfe funktioneller Elektrostimulation konnte sie nach einiger Zeit im Rollstuhl später wieder laufen – doch das Greifen blieb eine Herausforderung.

Seit 2023 trägt die heute 25-jährige Oldenburgerin eine elektronische Orthese exomotion® hand one. Damit kann sie ihre gelähmte rechte Hand wieder als Assistenzhand einsetzen – und erlebt spürbare Veränderungen:

"Die exomotion® hand one ist die erste Handorthese, die mir wirklich etwas bringt und genau deshalb stehe ich so hinter HKK Bionics. Sie ist nicht einfach irgendein Hilfsmittel, sondern das erste, mit dem ich aktiv wieder Dinge machen kann. Das verändert meinen Alltag und auch mein Selbstbild", sagt Claire. "Besonders wichtig ist mir, dass sie nicht so medizinisch aussieht. Klar, sie ist auffällig, aber genau das macht sie für mich besonders. Ich sehe nicht mehr krank aus, sondern individuell. Die Orthese ist für mich ein starkes Statement. Sie ist ein Tool, das mich unterstützt, aber mich nicht definiert."

Die Geschichte der Prothetik ist eine Geschichte des Fortschritts: von der funktionalen Notlösung zur hochentwickelten Technologie, die sich immer besser an die individuellen Bedürfnisse ihrer Nutzenden anpasst. Was einst mechanisch und starr war, wird heute dynamisch, lernfähig und mitdenkend.

Ob durch KI, neuronale Schnittstellen oder biomechanische Designs: Moderne Hilfsmittel sind längst mehr als Ersatz. Sie sind Werkzeuge für Selbstbestimmung, Bewegung und gesellschaftliche Teilhabe. Und sie zeigen, wie Technik nicht nur am Menschen orientiert sein kann, sondern auch mit ihm wächst.

Dabei bleiben zentrale Fragen:

• Wie zugänglich sind solche Technologien weltweit?
• Welche ethischen Standards braucht eine digitalisierte Prothetik?
• Und wie können Innovationen so gestaltet werden, dass sie Menschen wirklich weiterbringen – nicht nur technisch, sondern auch sozial?

Die nächsten Kapitel der Prothetik werden nicht nur in Laboren geschrieben, sondern im Dialog zwischen Forschung, Praxis und Alltag. Und genau dort beginnt auch die Zukunft der Mobilität.